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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Aus vergessenen Acten.

Eine Criminalgeschichte von Hans Blum.

(Fortsetzung.)


„Wolf,“ schaltete Kern ein, „müßte vorangegangen sein, damit King bei seinem Angriff auf den Meister vor dessen Schrei oder Gegenwehr sicher gewesen wäre.“

„Herr Wolf ist wahrscheinlich auch vorangegangen,“ erwiderte Margret. „King brauchte blos zu sagen ‚Sie fürchten sich wohl, Meister?’ so ist er gewiß vorausgegangen. Wie sie nun bei der Kellertreppe waren, hat King den Armen plötzlich gefaßt, vielleicht gewürgt und dann zur steilen Kellertreppe hinabgestoßen und nun hat der letzte Kampf begonnen.“

„An Ihnen, Margret, ist ein Untersuchungsrichter verloren gegangen,“ rief Kern mit Feuer. „Aber beantworten Sie mir noch eine Frage: wie kommt es, daß Hark ein Licht für sich besitzt, wenn King nicht einmal eines hat?“

„Es ist wohl ein Geschenk von Hark’s Mutter,“ erklärte Margret. „Es ist auch ganz anders als die unseren.“

„Von was für Stoff ist denn Hark’s Kerze?“

„Von Stearin,“ erwiderte Margret.

„Von Stearin?“ wiederholte der Amtsrichter überlegend. „Kommen Sie – wir wollen nachsehen.“

Der Amtsrichter eilte nach dem Zimmer zurück, in dem der Bezirksarzt mit dem Todten beschäftigt war.

„Schon fertig mit dem Protokoll?“ fragte der Doctor verwundert.

„Es ist keine Zeit dazu,“ sagte der Amtsrichter hastig. „Ich habe eine andere Fährte und will sie verfolgen, so lange sie noch unverwischt ist.“

„Eine andere Fährte?“ fragte der Arzt erstaunt.

„Jawohl, Herr Bezirksarzt. Bitte, folgen Sie uns!“

Er ließ Margret mit der Leuchte wieder vorangehen, nach dem Keller. Der Arzt folgte. Unterwegs rief Kern einen der Gerichtsdiener heran.

„Sie stellen sich an die obere Treppe, in der ersten Etage!“ befahl er. „Wenn Jemand herunter will, so halten Sie ihn fest.“

Dann schloß Kern die Kellerthür auf. Er suchte eifrig mit Margret’s Lampe am Boden des Vorkellers, schien aber nicht zu finden, was er suchte. Endlich, nahe dem Eingang zum großen, eigentlichen Keller, rief er plötzlich: „Hier!“ stellte die Lampe auf den sandigen Boden, kniete nieder und wies mit dem Finger auf eine Anzahl weißlicher Tropfen im Sande. „Was ist das, Herr Doctor?“ fragte er.

Auch der Doctor beugte sich nahe über die erstarrten Tropfen, nahm einen auf, rieb mit dem Finger daran und prüfte dessen Geruch und Geschmack. „Stearin,“ sagte er dann ruhig, „weiter nichts.“

„Weiter nichts,“ wiederholte Kern lächelnd. „Aber vielleicht bilden diese harmlosen Stearintropfen die erste Einleitung zu einem Todesurtheil.“

Der Arzt sprang auf, und Kern erzählte ihm rasch, was er von Margret vernommen.

„Das Mädchen hat Recht,“ sagte der Doctor nach kurzem Nachsinnen. „So, allein so, wie sie den Verlauf der schaurigen Tragödie sich denkt, ist diese erklärlich und vereinbar mit dem Zustande des Todten. Alle Wunden gehen senkrecht. King ist erheblich größer, als der todte Meister war, während Bahring fast dieselbe Größe mit Wolf hat. Und alle Wunden, ohne Ausnahme – auch die ersten, die der Mörder seinem Opfer im Rücken, am Halse oder in der Schulter beigebracht haben mag, gehen von oben in die Tiefe. Nun vollends die späteren; da stand der arme Meister wahrscheinlich tiefer als der Mörder auf der Kellertreppe und wehrte sich waffenlos, so gut es ging. Da trafen alle Streiche senkrecht aus der Höhe wie Blitze in das Bischen Leben und löschten es aus.“

„Sie haben auch etwas Phantasie, Herr Doctor, wie die Margret – neben Ihrem scharfen Auge,“ sagte Kern.

„Hier ziehe ich aber wirklich nur die Linien zwischen den Punkten, die mir gegeben sind, Herr Amtsrichter,“ entgegnete der Doctor. „Ich habe auch noch andere Beweise. Folgen Sie mir nun einmal! Vielleicht habe ich auch für Sie eine Ueberraschung.“

Sie eilten wieder in das Schlafzimmer des Ermordeten.

„Sehen Sie hier diese Finger der rechten und linken Hand des Meisters! Sie schaudern. Bezwingen Sie sich. Beide Nägel wurden im letzten Kampfe halb abgerissen, als der Mörder aus den krampfhaft eingehakten Fingern seines Opfers sich gewaltsam befreite. Sehen Sie hier diesen grobfaserigen, blauweißen Baumwollenstoff, der an den Nägeln des Todten haftet! Wer trägt diesen Stoff und an welchem Kleidungsstücke?“

Margret war mit ihrer Leuchte ganz nahe herangetreten und hatte die Spuren des Zeuges, das der Arzt vorzeigte, genau geprüft.

„Das sind Fasern aus King’s Unterbeinkleidern,“ rief sie bestimmt. „Er hat immer im Hause waschen lassen, ich besinne mich genau auf den eigenthümlichen Stoff. Sie werden sich selbst überzeugen, wenn Sie nachsehen.“

„Ich habe keine Bedenken mehr,“ sagte der Amtsrichter finster, wie wenn er einen Entschluß gefaßt hätte, bei dem Tod und Leben auf dem Spiele steht. „Gehen wir nach oben!“

Der Amtsdiener, der am Fuße der oberen Treppe stand, hatte inzwischen nichts Auffallendes vernommen.

Zuvörderst wurde indeß noch auf Befehl Kern’s der andere Diener, der unten in der Hausthür Wache hielt, von Margret heraufgerufen. Sie stellte, ehe sie herabeilte, ihre Lampe an den Hals der Treppe, die von der ersten Etage in die Hausflur des Parterre führte. Der Amtsrichter sah ihr nach; seine Augen blickten, als sie verschwunden war, sinnend in das Licht, das sie hatte stehen lassen, und neben dieses.

„Was ist das?“ fragte er plötzlich aufgeregt den Doctor und deutete auf den Boden, dicht neben die Lampe.

Eine schmale, aber deutlich erkennbare Spur von rothen Tropfen zog sich von der oberen Stufe der unteren Treppe durch den Flur der ersten Etage nach dem Standort, den der Gerichtsdiener am Fuße der oberen Treppe einnahm, und als diese Treppe flüchtig beleuchtet wurde, auch ihre Stufen aufwärts.

Margret kam jetzt mit dem andern Gerichtsdiener leise herauf, und Kern, vom Arzt begleitet, leuchtete eigenhändig die Treppe abwärts und weiter durch den Hausflur. Die rothen Tropfen führten weiter zur Kellerthür, die Kellertreppe hinab, bis zu der Stelle, wo Wolf in seinem Blute gefunden worden war. Sie zweigten in dem Hausflur des Parterre nach der Hofthür ab, nach der Thür der Damen, die der Mörder von außen verschlossen hatte, nach der Hausthür, durch die er, wie man früher annahm, entwichen war; sie verschwanden auf der Schwelle der Hausthür und setzten sich auch nicht fort auf der Schwelle der Hinterthür oder in den Hof.

„Was sind das für Flecken?“ fragte Kern von Neuem.

„Allem Anscheine nach Blutflecke,“ entgegnete der Arzt.

„Die uns zeigen, daß der Mörder innerhalb des Hauses geblieben und zu suchen ist,“ sagte Kern scharf. „Wir werden ihn suchen.“

Die schmale, blutige Spur führte sie zu dem, den sie suchten. Sie zog sich ununterbrochen bis zu King’s Schlafkammer.




Als der Amtsrichter mit dem Bezirksarzte in den Schlafraum der Lehrlinge trat, fuhren diese jäh auf aus dem kaum wiedergewonnenen Schlummer.

Noch ehe sie erwachten, hatte Kern jedoch hinter den von Margret erwähnten Spiegel über Hark’s Bett gegriffen und dort den etwa sechs Zoll langen Rest eines Stearinlichtes erfaßt und hervorgezogen. Er zeigte es dem Doctor mit bedeutsamem Blicke, ohne ein Wort zu sagen. Zahlreiche Körner gelben Sandes klebten längs der Kerze an dem heruntergelaufenen Stearin, namentlich auf der unteren Fläche, mit der sie vermuthlich in den Sand gestellt worden war, und größere röthliche Flecken, anzusehen wie der Abdruck blutiger menschlicher Finger, waren an der Seite derselben wahrzunehmen.

Die beiden Männer traten nun in die Kammer King’s; die Amtsdiener folgten ihnen auf dem Fuße.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 603. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_603.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)