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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

ist unschuldig gestorben – er hat seinen alten Herrn nicht betrogen – Gott sei Dank, Gott sei Dank!“ Sie preßte inbrünstig die Hände auf die Brust.

„Sie haben Recht, und ich – habe meine Schuldigkeit gethan.“ Die Majorin wandte sich von dem Portrait ihres Großvaters ab und stieg die Gallerietreppe hinauf, in die Mauertiefe hinein.

Sie sah im Salon Deborah bei den Kindern stehen, auch Mamsell Birkner war da und blickte ihr mit namenlos erschreckten Augen in das Gesicht. Das Tageslicht, das vom Salon hereinfiel, zeigte ihr, daß die glatte, braune Holzfläche unter den Schnitzarabesken an dieser Stelle eine Thür war, die augenblicklich zurückgeschlagen an der Innenwand lehnte. Seitwärts tretend, um sie vorzulegen, stieß die Majorin mit dem Fuß an einen Gegenstand in der dunklen Ecke; sie bückte sich und nahm ihn auf, und nachdem sie die Thür zugedrückt hatte, schritt sie die Steinstufen wieder herab; sie trug ein silberblinkendes Kästchen in der Hand.

Einen Augenblick stand Donna Mercedes blaß und bewegungslos da wie eine Bildsäule; dann sagte sie mit bebender Stimme: „Nun können Sie Felix’ letzten Brief an seine Mutter lesen – er ist in Ihren Händen.“

„Ich wußte es ja, daß die Mäuse vom Klostergute dagewesen waren,“ murmelte Hannchen, und jenes stille, bittere Lächeln, welches Lucile und die Leute des Hauses für ein Zeichen des Irrsinns erklärt hatten, hob ihre Lippen leicht von den schönen Zähnen. „Aber das geht mich nichts an, gar nichts,“ setzte sie rasch und erröthend hinzu, als schäme sie sich einer unbedachten Bemerkung.

Das Kästchen war auf die Dielen gepoltert, und die Majorin schlug die Hände vor das Gesicht, Veit aber verfiel unter einem schrillen Aufschrei auf’s Neue in heftige Zuckungen.

In diesem Augenblicke sah die Magd durch die Thür der Eßstube herein und meldete, daß der nahe wohnende Arzt sogleich kommen werde.

Die Majorin raffte sich auf; sie ging nach der Thür und schloß sie vor der Nase der verblüfft und neugierig Herüberlauschenden. „Ich habe noch einen harten Strauß auszufechten,“ sagte sie mit ihrer früheren harten, unerbittlichen Stimme zu Donna Mercedes. „Gehen Sie jetzt zu meinen Enkeln! Ich komme nach, wenn ich – zu Ende bin.“

Hannchen hob das Kästchen auf und verbarg es unter einem zustimmenden Blicke der Donna Mercedes in den Schürzenfalten.

Beide kehrten in den Salon zurück, und die Majorin schloß hinter ihnen die braune Holzthür; auch die seltsame Polsterwand, aus deren geborstenem Leder Roßhaare und Wergbündel quollen, legte sie vor und versuchte, den in die Amtsstube mündenden Eingang zu verschließen. Es gelang ihr bis auf eine schmale, klaffende Fuge – sie wußte ja nicht, daß der Eisenstift, welcher den Verschluß bewirkte, in der ehemaligen Orgelbehausung zu suchen war.

Als der Arzt kam, fand er die Frau blaß, aber vollkommen gefaßt, in ihrer bekannten strengen Haltung neben dem erkrankten Knaben sitzen. Er selbst war tief alterirt über das Grubenunglück, das die ganze Stadt in Aufruhr versetzte, und begann schon beim Eintreten davon zu sprechen. Allein die Majorin zeigte stumm auf Veit, und er fuhr sichtlich erschrocken zurück, als sein Blick auf das Kind fiel. Nun forschte er nach der Ursache des Anfalles, constatirte eine heftige Gehirnerschütterung in Folge des Sturzes und erklärte die Erkrankung für einen „sehr schweren Fall“, von welchem der Vater sofort in Kenntniß gesetzt werden müsse. Ohne Verweilen sandte er einen Boten fort....

Es hatte lange, lange Zeit ein unveränderlicher Glücksstern über dem alten Klostergute gestanden. Er hatte Sonnenschein und Regen, Säen und Ernten wohl behütet, auf daß die goldene Frucht des Reichthums, des Familienansehens immer üppiger anschwelle, und als das biderbe Geschlecht zu erlöschen drohte, da war er scheinbar noch einmal höher aufgeglüht und hatte die kümmerliche Menschenblüthe angestrahlt, die der alte Stamm getrieben – nahezu mit dem ersten Augenaufschlag des Kindes zugleich war ja die neue Goldquelle im kleinen Thale für die Wolframs zu Tage gesprungen – und nun erlosch er urplötzlich. Nicht heraufziehende, wieder verwehende Wolken verdeckten sein Licht, nein, er zerstob in Trümmer und riß den Wolfram’schen Namen mit sich in die ewige Nacht. –

Hier, im Klosterhause, hing die Hoffnung des Wolfram’schen Geschlechtes an einem dünnen Fädchen, draußen im Thale aber empörte sich fast zur gleichen Stunde ein furchtbares Element gegen die Hand, die gierig und räuberisch in den Eingeweiden der Erde gewühlt hatte, um Schätze auf Schätze zu häufen – die Nemesis ging schweren Trittes über den Schuldigen hinweg, aber sie zertrat dabei auch Menschenleben, die nicht mitgesündigt hatten.

Man hörte auf dem Schauplatze des Unglückes immer noch Hülferufe aus der Tiefe, allein den Abgesperrten, die das Wasser in unerbittlicher Consequenz unter sich steigen sahen, ohne daß sie auch nur noch um eine Linie höher zu klettern vermochten, war schwer beizukommen. Was Menschenkraft vermochte, das geschah. Man arbeitete, daß das Blut unter den Nägeln hervortrat, und der Rath war der Thätigsten Einer, aber das beschwichtigte und versöhnte die Gemüther nicht.

Alles, was sich an Haß und Groll seit langen Jahren in der Bevölkerung gegen den reichen, gewaltthätigen ehemaligen Oberbürgermeister aufgespeichert hatte, es kam jetzt zum Austrag. Er war stets mit malitiösem Lächeln an den Leuten vorübergegangen, wenn sie mit bösen Blicken, aber dennoch unterwürfig den Hut vor ihm gezogen; denn ein Mächtiger war und blieb er auch noch nach seinem Rücktritte vom öffentlichen Amte, ein Mächtiger an Capital und Einfluß.

Jetzt lächelte er nicht der murrenden Menge gegenüber. Alles, was an schmähenden und beschuldigenden Zurufen sein Ohr traf, sagte ihm mit vernichtender Kritik, daß er nicht allein tödtlich gehaßt, sondern auch verachtet werde, daß der alte Klaus nicht wiederkommen dürfe, weil er sehen müsse, daß Einer seiner Nachkommen das alte Ansehen der Wolframs beim Publicum durch seine zuchtlose Habgier, sein brutales und anmaßendes Auftreten völlig untergraben habe.

In diesen inneren und äußeren Sturm hinein kam die ärztliche Botschaft vom Klostergute. Das zum Hinablassen in die Tiefe bestimmte Seil, welches der Rath eben herbeischleppte, entfiel seinen Händen; einen Augenblick stand er wie vom Blitz getroffen; dann verließ er seinen Rettungsposten, um nach der Stadt zu eilen.

Zwar hatte die Gensdarmerie bereits eine Art engen Cordons um die Unglücksstätte zu ziehen gewußt, aber die Menschenmassen, denen immer neue von der Stadt her zuströmten, standen doch so nahe und dichtgedrängt, daß sich die Fortgehenden eine förmliche Bresche erzwingen mußten.

„Haltet ihn! Er will entwischen, weil er weiß, daß den armen Teufeln da unten nicht zu helfen ist,“ rief es plötzlich aus der Menge, durch welche sich der Rath den Weg suchte.

Sofort griff ein Dutzend Hände nach ihm – der Hut flog ihm vom Kopfe; sein Rock wurde zerrissen, und die wüthende Masse hätte den Verhaßten zertreten, wenn nicht die Sicherheitsbeamten zu seinem Schutz herbeigeeilt wären und ihn bis zu den ersten Häusern der Stadt begleitet hätten.

Ohne Hut, mit Staub und Schweiß bedeckt, verstört im Gesicht bis zur Unkenntlichkeit – so trat er in die Amtsstube.

„Was ist mit Veit?“ stieß er athemlos heraus, und in seiner Stimme mischte sich mit der bebenden Angst doch auch noch der Ingrimm über die eben erlittene Mißhandlung. An die dunkle Macht, die bereits mit einem Fuß in seinem Hause stand, an den Tod seines Lieblings, schien er doch, trotz der dringenden Botschaft des Arztes, nicht im Entferntesten zu denken.

Der Knabe lag augenblicklich wieder ruhig – bei flüchtigem Hinsehen konnte man meinen, er schlafe.

„Er hat einen seiner gewöhnlichen Anfälle gehabt,“ sagte der Rath erleichtert, aber auch fast überlegen und im Ton impertinenter Zurechtweisung dafür, daß man ihm um deswillen einen solchen Schrecken eingejagt habe.

„Ja – die Anfälle wiederholen sich nur in etwas rascher Aufeinanderfolge,“ versetzte der Arzt ohne alle Empfindlichkeit, aber auch ohne den Rath anzusehen. Er hatte sich an einen Tisch gesetzt und schrieb mit dem Bleistift ein neues Recept.

„Wie kommt das?“ fragte der Rath immer noch unbesorgt.

„Er hat eine Gehirnerschütterung erlitten; er ist gestürzt –“

„Vom Birnbaum?“

„Nein,“ sagte die Majorin vom Fenster herüber. Sie hatte sich beim Kommen ihres Bruders in die tiefe Mauernische zurückgezogen und war bis jetzt nicht in seinen Gesichtskreis getreten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 595. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_595.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)