Seite:Die Gartenlaube (1879) 551.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


seine Arme nehmen und etwa sagen: „Das ist ja sehr traurig! Wie thut auch mir das Vögelchen leid! Aber weißt Du, es war alt und krank; da ist es viel besser so für das arme Thierchen. – Wir wollen es in eine schöne Schachtel legen, und Du magst es draußen im Garten begraben.“

Ehe noch die Schachtel ganz mit Erde bedeckt ist, schimmert schon wieder der alte Glanz aus den rothgeweinten Aeuglein – o, du selige, glückliche Kinderzeit! In solcher Weise muß man, wenn man es redlich meint, die Kümmernisse behandeln, die das Kinderparadies bedrohen. Als ich diese Ansicht einmal aussprach, wurde mir eingewendet: „Das Leben bettet aber später unsere Kinder nicht auf Rosen; ist es da nicht thöricht, sie in der Jugend so sehr zu verwöhnen?“

Auch hier, wie überall im Leben, sprechen Thatsachen und Erfahrungen am lautesten. Nun kann ich aber, bei mir selbst anfangend, die ich eine der sonnigsten Stellen im unvergessenen Kinderparadiese bewohnen durfte und gerade dadurch gestählt wurde für die Kämpfe späterer Jahre – bei mir selbst anfangend, kann ich mich umsehen so weit ich will, ich höre fast von allen Menschen, welche schwere Schicksale standhaft zu ertragen wußten, sagen: „Wer hätte gerade diesem Menschen, der nur in Glück und Freude groß gewachsen ist, solche Kraft zugetraut?“

Das Glück und die Freude haben ihm eben die Kraft gegeben, auch weniger gute Stunden heiter zu ertragen. Elterliche Schwäche, Inconsequenz, Unverstand oder Nachlässigkeit in der Erziehung verwöhnen ein Kind und machen es für die Anforderungen des Lebens untauglich, aber Kinderjahre voll Liebe, Lust und Freude, geschützt und geleitet von besonnener treuer Elternhand, haben gewiß noch keinen Menschen verwöhnt.

Wer seine Kinder lieb hat, der gönne ihnen den sonnigen Frühling und suche alle die kleinen Freudenblumen zu pflegen, an denen das Kinderherz so reich ist und die man ihm so leicht verschaffen kann. Alles aber, was dieses Glück trüben oder vorzeitig begraben muß, suche er sorgfältig, mit Selbstverleugnung und Aufopferung zu vermeiden; dann hat er seinen Kindern den Talisman mit in’s Leben hinaus gegeben, den keine menschliche Gewalt und keine Schicksalstücke ihnen jemals rauben kann: ein heiteres Gemüth und ein zufrieden fröhliches Herz.




Laube’s Vortragsmeister.
Ein Beitrag zur Theater-Pädagogik von Wilhelm Goldbaum.

Lessing war dem deutschen Theater im eigentlichsten Sinne ein Pfadfinder. Von denen, die seinen Fußspuren gefolgt sind, ist Heinrich Laube am tapfersten in’s Dickicht vorgedrungen. Davon wissen das Wiener Burgtheater und das schöne Haus am Leipziger Augustusplatze beredte Geschichten zu erzählen. Der Schlendrian, die armselige Routine, das Handwerkerthum in der theatralischen Kunst waren übermächtig geworden trotz der „Hamburgischen Dramaturgie“, trotz August Wilhelm von Schlegel’s dramaturgischen Vorlesungen, trotz Goethe’s Direction in Weimar und der Genialität eines Ludwig Devrient und Seydelmann. Jeder untergeordnete Schauspieler dünkte sich einen geborenen Meister, jeder hervorragende ward allmählich zum Virtuosen. Der Theaterdirector sank zum Cassier, der Regisseur zum Ordner herab. Wenige Bühnenleiter in dem Zwischenraume zwischen Goethe’s Tode und Laube’s Amtsantritt in Wien machten eine Ausnahme, wie etwa Klingemann und L. A. Schmidt, aber sie vermochten nicht, breitere Wirkungen zu üben und das gesammte deutsche Schauspielerthum im Lessing’schen Sinne zu reformiren, da sie mit ihren Bestrebungen auf deutsche Mittelbühnen angewiesen waren. So zerfiel jedes Ensemble; unmäßiges Pathos gelangte hier, seelenloser Realismus dort zur Herrschaft, und am Ende war dasjenige Land, wo man die Lehren des Aristoteles am scharfsinnigsten erfaßt und Shakespeare zu Ehren gebracht, das einen Lessing erzeugt und von Schiller und Goethe unvergängliche Bühnenwerke ererbt hatte, im Besitze einer Schaubühne, die, anstatt bildend zu wirken, selber roh, und anstatt unterhaltend zu sein, geldgierig und hausbacken war. Heinrich Laube hat zuerst wieder dem deutschen Theater idealere Wege gewiesen; er kommt gleich hinter Lessing, wenn auch als Epigone nur verlebendigend und gestaltend, was jener gewollt und ausgedacht hat.

So ist das Laube’sche Institut eines Vortragsmeisters ein dualistisches Ding, ein Geschöpf zugleich Lessing’scher Intention und Laube’scher Schaffenskraft. Als Lessing Stammgast hinter den Coulissen der Theaterbude der Neuberin wurde, wo über Gottsched das Strafgericht hereinbrach, da graute es ihm vor der abgrundtiefen Unbildung, der er bei den Trägern und Trägerinnen der göttlichen Kunst begegnete. Nicht viel besser erging es ihm in Hamburg. Der Instinct that Alles, das Verständniß nichts. Ganz natürlich war es also, daß in ihm der Wunsch auftauchte, es möchte zum Genie die Lehre, zum Instincte die Unterweisung sich gesellen. Das Sprechen ist eine schwere Kunst; man erlernt es weder durch bloße Uebung, noch durch angeborene Findigkeit. Wie mühsam hat Schröder an sich gearbeitet, um auf der Bühne angemessen sprechen zu können! Und wie wenige, auch unter den Unsterblichen des Theaters, haben es erreicht, daß sie wahrhaftig und ohne Fehl aus dem Geiste des Dichters sprachen!

Aber erst hundert Jahre nach der „Minna von Barnhelm“ kam Lessing’s Wunsch, gleichsam als Vermächtniß, zur Erfüllung.

Heinrich Laube, der das Theater in Leipzig führte, verwirklichte ihn, nachdem er eine Persönlichkeit ausfindig gemacht hatte, welche ihm geeignet schien, die Kunst des scenischen Sprechens erfolgreich zu lehren. Darüber ergab sich der erfahrene Mann keiner Täuschung, daß alle Unterweisung der Welt nicht hinreicht, um auch nur ein einziges Genie zu schaffen, und er meinte nicht etwa, daß die Arbeit des Vortragsmeisters mangelndes Talent ersetzen könne. Aber wie an anderen Orten, so ist auch auf den Brettern das Talent in der Minderheit und die verwendbare Mittelmäßigkeit in der überwiegenden Majorität. Für sie, die nur kann, was sie eifrigst lernte, ist der Vortragsmeister vorhanden; dem Genie, das so Vieles vermag, auch ohne es gelernt zu haben, ist der Vortragsmeister nahezu überflüssig. Wer einer ersten Probe neuer Theaterstücke beigewohnt hat, ist in der Lage, darüber zu urtheilen. Welche Wort- und Satzverrenkungen, welch sinnlose und triviale Accente, welcher Mangel an Verständniß nicht blos der tieferliegenden, sondern der anscheinend einfachsten Gedanken! Der Regisseur hat einen Augiasstall von Unwissenheit zu säubern, bevor er aus Mimik, Gesticulation und Zusammenspiel sein Augenmerk zu richten vermag, und so viele Proben, daß das Säuberungswerk völlig gelinge, können sich nur wenige deutsche Theater vergönnen. Darum ist es erforderlich, daß die Elementarthätigkeit, welche auf die Kunst des richtigen Sprechens verwendet werden muß, außerhalb des Theaters und lange vor Beginn der Proben geübt werde, und dazu ist der Vortragsmeister da, der nicht selbst ein Schauspieler zu sein braucht, aber ein genauer Kenner der Bühne und der Bühnenliteratur sein und die Gabe der Unterweisung mit der Fähigkeit tadelloser Vortragskunst in sich vereinigen muß.

Heinrich Laube hat die meisten unter den berühmten Darstellern und Darstellerinnen, über welche gegenwärtig das Wiener Burgtheater verfügt, schlechthin erfunden. Er zog Charlotte Wolter an’s Licht, entdeckte Auguste Baudius, Sonnenthal und Lewinsky, engagirte Zerline Gabillon. Auch Alexander Strakosch, der Vortragsmeister, wurde von ihm aufgespürt, und dieser erwies sich dafür dankbar, indem er seinem Patrone eine der talentvollsten unter den gegenwärtigen deutschen Heroinen, nämlich Katharina Frank, aus dem Wuste des Statistenthums auflas und zu künstlerischer Wirkungsfähigkeit erzog.

Alexander Strakosch ist von Geburt ein Deutsch-Ungar. Er stammt aus der Slovakei, dem Lande am südwestlichen Abhange der Karpathen, wo die Industrie der Mausefallen in hoher Blüthe steht. Streng genommen also rinnt slavisches Blut in seinen Adern, und da er nebenbei zum auserwählten Volke gehört, so denkt man unwillkürlich an Bogumil Dawison, in welchem die Vereinigung von Pole und Jude den Hang zur deutschen Kunst ebenfalls nicht zu erdrücken vermochte.

Diejenigen, von welchen Strakosch schon als Jüngling gekannt wurde, erinnern sich seiner als eines Mitläufers der Wiener

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 551. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_551.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)