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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

streng darauf gehalten habe, daß nur Bürger und Bürgerssöhne Mitglieder werden dürften. Aber die jüngeren Damen, die King zum Tanze engagirte, dachten viel freier über Standesunterschiede. Wäre Herr King selbstständiger Meister gewesen, so wären ihm wahrscheinlich längst einige geschickte Fallen von künftigen Schwiegermüttern gestellt worden.

Die große Popularität King’s aber hatte sich, wenigstens bei dem weiblichen Theile der Stadtbevölkerung, seit Pfingsten bedeutend verringert. Seitdem hatte sich nämlich das Gerücht verbreitet, daß King sich mit Natalie Becker, der Tochter eines Bürgers und Hausbesitzers des Städtchens, im Stillen verlobt habe. Das Gerücht bestätigte, wie alle derartigen Gerüchte, natürlich nur die bestimmten Ahnungen und Wahrnehmungen sämmtlicher Mädchen und Frauen der Stadt. Es kam nun heraus, daß Hulda schon längst zuvor ein Ballgespräch der Liebenden belauscht, Bertha ein Rendezvous beobachtet und Lina einen Kuß noch rechtzeitig verhindert habe.

Die große Gratulationskarawane, die unmittelbar nach den Pfingsttagen zum Becker’schen Hause wallfahrtete, fand Nalchen wunderbarer Weise verreist und erhielt von deren Eltern die kurze Antwort, daß ihnen von der Angelegenheit des Verlöbnisses ihrer einzigen Tochter gar nichts bekannt, das Ganze ein dummer Scherz irgend eines heimlichen Feindes oder einer boshaften Neiderin sei. Dasselbe versicherte Nalchen bei ihrer Rückkehr zu Ende der Pfingstwoche. Und bei allen Gelegenheiten, welche sie öffentlich mit King zusammenführten, zeigte sie sich diesem gegenüber bedeutend zurückhaltender und kühler als irgend eine andere Dame, und – nun hatte das Gerücht natürlich um so mehr Recht. Auch King, der sich ganz den Anschein gab, mit Nalchen nur auf Hofton zu stehen, wenn er mit ihr öffentlich zusammentraf, sowie die Eltern Nalchen’s nahmen fortgesetzt an diesem Versteckspiel Theil. Letztere besonders schienen die Verpflichtung übernommen zu haben, dem landfremden Kürschnergesellen zu zeigen, wie viel Vorrath von Bürgersinn, Geld- und Standesstolz das Haus Becker noch zur Verfügung habe. Aber das war natürlich auch nur Schein, wie das Gerücht versicherte. Im Grunde war, nach der allgemeinen Ansicht, das ganze Becker’sche Haus so einig mit King, wie der einzige Sohn des Hauses, Fritz Becker, der selten im Wirthshaus an King’s Seite fehlte und der, wie alle Welt wußte, nicht im mindesten die Gabe der Verstellung besaß.

Auch heute Abend saß er an King’s Seite. Die Beiden ließen etwas draufgehen, als Wolf fort war. Wenn der Wirth zum „Ochsen“ lauter solche Kunden gehabt hätte, er hätte bald das Geschäft des Couponabschneidens beginnen können. Die Augen der biertrinkenden Nachbarn richteten sich mit neugierigem Neide und mißbilligender Zurückhaltung auf die volltönenden Etiketten, welche auf Befehl der jungen Männer nach einander dem kleinstädtischen Weinkeller des Ochsenwirths entlockt wurden. Im Grunde mochte mancher von den Zuschauern dieses Weinturniers recht gut wissen, daß fast ein noch größerer Muth dazu gehöre, diese Säfte zu trinken, als die Namen ihrer Etiketten zu bezahlen.

Denn es war kein Geheimniß, daß der Wirth zum „Ochsen“ alljährlich kurz vor der Kirmeß von dem Weinhändler Gotthelf Bieder in der Residenz feierlich empfangen wurde. Der Inhaber der Firma begrüßte den ländlichen Kunden mit den Worten: „Ei, sieh da, Gevatterchen, was führt Sie denn hierher? Gerade sehr viel zu thun. Aber ein Frühstückchen nehmen wir unterdessen, nicht wahr?“ Damit wurde von dem alleinigen Inhaber der Firma Gotthelf Bieder eigenhändig ein Häring der salzigen Fluth entnommen und ein Glas landläufigsten Rothspohns eingeschenkt, und wenn das arglose Gemüth des Provinzialen, durch diese Verquickung von Salz und Säure begeistert, keiner Beredsamkeit mehr zu widerstehen vermochte, begann der Träger der Firma Gotthelf Bieder auf das Geschäft einzugehen.

„Ei, Gevatterchen, wir wollen doch die Kirmeß ausrichten, nicht wahr? Habe mir das schon lange überlegt, natürlich. Für den Anfang geben Sie dieses Weinchen – kosten Sie mal – ganz pique, ja, ja – aber es muß, unter uns gesagt, rasch weggetrunken werden. Lange liegen darf es nicht. Jahrgang verträgt’s nicht. Schade, hätte sonst eine Zukunft. Wenn dann die Köpfe etwas fidel werden – braucht nicht viel dazu, ha, ha! – so geben Sie von der Sorte hier, Gevatterchen! Wir nennen’s Jesuitengarten Hinterhäuser. Sie berechnen anderthalb Thaler die Flasche mit Spaß. Lasse sie Ihnen, Gevatterchen, aber nur Ihnen, mit zwanzig Silber. War einmal ein Pastor bei mir, hatte auch davon getrunken. Am andern Morgen kam er wieder und schrieb mir einen Bibelvers auf, den ich lesen und auf die Etiketten dieser Sorte drucken lassen sollte. Ich schlug ihn nach und fand: ‚Es gehet ein wie Oel, aber es beißet als eine Otter’. So schlimm ist’s natürlich nicht, Gevatterchen, ha, ha!“

King und Becker hatten von beiden Sorten getrunken: von derjenigen, die rasch weggetrunken werden mußte, und von der andern, die einging wie Oel, aber biß als eine Otter. King hatte eigentlich sehr wenig getrunken. Gleichwohl kämpfte er schon nach zehn Uhr Abends sichtlich mit großer Müdigkeit. Wiederholt gab er auf Fragen der Umsitzenden, selbst Becker’s, gar keine Antwort mehr, sondern nickte und träumte mit halbgeschlossenem Auge, den Kopf in die Hand gestützt, selbstvergessen vor sich hin. Mit einem Male schüttelte er sich und sprang auf.

„Wir wollen gehen,“ sagte er leise zu Fritz. Er zahlte die Hälfte der Zeche, er ließ nicht zu, daß Fritz zahlte; dann ergriffen die beiden jungen Männer Hut und Stock, um zu gehen.

„Halt,“ sagte King, fast schon an der Thür. „Es ziemt sich, noch dem Vorstand ,Gute Nacht’ zu wünschen. Komm!“

Er trat an den Vorstandstisch, Fritz hinter ihm, das Gespräch war aber gerade sehr lebhaft, sodaß sie nicht wagten, durch ihr Dazwischentreten die Herren zu unterbrechen. King schien immer noch sehr müde. Er lehnte sich an einen Pfeiler und hörte schläfrig dem Lauf des Gespräches zu. Die Augen fielen ihm fast zu.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


In Deutschland verschollen! Ein armer Fabrikarbeiter in Schweinfurt am Main bittet die Leser der „Gartenlaube“ um ihren Beistand bei der Nachforschung nach der Spur seines seit dem 16. Juni vermißten einzigen Sohnes. Bis zu diesem Tage befand sich der fünfzehnjährige Jüngling als Zögling in der Präparandenschule zu Arnstein im baierischen Unterfranken und ist seitdem spurlos verschwunden. Der Name des etwas schmächtigen jungen Menschen ist Otto Schaup. Wir brauchen unseren Lesern nicht zu schildern, mit welcher Herzensqual der Vater einer Enthüllung des dunklen Schicksals seines Sohnes entgegenblickt, und bitten recht dringend, jede Nachricht über den Vermißten uns eiligst zugehen zu lassen.




Anfrage. Besteht in Deutschland eine Bildungs- und Erziehungsanstalt, welche, vielleicht durch Stiftungen dazu ausgerüstet, wohlerzogene und gesunde Knaben gebildeter, aber mittelloser Eltern unentgeltlich aufnimmt?




Kleiner Briefkasten.

P. v. M. Sie fragen als Leser Luther’scher Schriften nach der Bedeutung der dort erwähnten Abendmahlsröhrlein („Ihr habt bedacht, daß man mit Röhrlein aus dem Kelche trinken solle, damit das Blut Christi nicht verheeret werde“). Wir sind im Stande, hierüber im Folgenden genaue Aufklärung zu geben:

Die Scheu des Priesters, beim Kelchgebrauche in dem Weine das Blut Christi zu vergießen, hat die Einführung der Abendmahlsröhrlein veranlaßt. Diese Scheu war so groß, daß, wenn aus Versehen dem Kelche ein Tropfen entfiel, derselbe mit der Zunge abgeleckt und die Tafel abgeschliffen oder abgehobelt werden mußte. Fiel der Wein zufällig auf ein Brett, so wurde dasselbe verbrannt und die Asche innerhalb des Altars aufbewahrt, der Priester aber mußte seine Unachtsamkeit mit drei Tagen Fasten büßen. Selbstverständlich galten diese Gesetze nur für den katholischen Priester, obschon, wie der allgemein eingeführte Gebrauch des Röhrleins beweist, auch in der evangelischen Kirche dieselbe Scheu vor derartiger Entweihung des Weines herrschte. – Schon vor dem neunten Jahrhundert waren die Kelchröhrlein in der lateinischen Kirche gebräuchlich und erhielten sich noch lange bei dem sogenannten „Spülkelche“. Selbst der Papst hatte sein „sanguisucchiello“, welches von Gold war und ein aus einem Sapphir geschnittenes Mundstück hatte. – In Spener’s „Theologischen Bedenken“ wird ebenfalls der Kelchröhrlein erwähnt, und hiernach müssen dieselben noch um 1698 in der Mark Brandenburg vielfach gebraucht worden sein. Spener will ihre Abschaffung, „da man nicht wisse, ob einer trinken möge oder nicht, oder es nicht verstehe“.

Almir C. B. Amorbach. Die Ballade „Des Hochländers Rache“ von Wilhelm Schröder finden Sie in Nr. 44, 1855.

C. H. in Zweibrücken. Auf Grund eingezogener Informationen müssen wir die bewußte Anstalt mit Entschiedenheit als eine solche bezeichnen, welche lediglich auf die Ausbeutung des leichtgläubigen Publicums abzielt. Wir werden nächstens eingehend auf den Gegenstand zurückkommen.

Ein Abonnent auf St. Pauli. Sie finden den gesuchten Artikel im Jahrgang 1864, Nr. 31.


Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 544. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_544.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)