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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


Stücke selbst gesehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind dieselben in Persien fabricirt, an einem Pestorte inficirt und verpackt, nach Armenien versandt, hier – und zwar muthmaßlich in Kars – den plündernden Kosaken in die Hände gefallen und von diesen – in unausgepacktem Zustande, da in den Regimentern selbst die Pest nicht ausbrach – nach Wetljanka übermittelt. Die ersten Stücke der Art langten durch die Post Anfangs October an; eine größere Menge derselben brachte das am 9. November anlangende Detachement selbst mit. Bis hierher die auf jene Beute bezüglichen Facta, denen wir eine entsprechende Wichtigkeit besonders dann werden zuerkennen müssen, wenn gewisse unterstützende Einzelheiten ermittelt werden können und wenn Logik und Erfahrung mit ihnen im Einklange stehen. Von jenen Einzelheiten seien hier folgende kurz skizzirt.

1) Der erste an der Pest verstorbene Wetljanker war ein reicher Fischer, der mit mehreren der zurückgekehrten Kosaken über ihre Beutestücke in Verhandlung getreten war; sein Sohn folgte ihm sehr bald im Tode nach; in seiner Familie fiel eine große Reihe von Opfern.

2) Ein junger Kosak – man erinnert sich, diesen Vorfall in einer naiven, etwas verstümmelten Darstellung in den Zeitungen gelesen zu haben – schickte seiner Braut einen schönen erbeuteten Shawl. Das Mädchen sollte, damit angeputzt, unmittelbar vor dem Spiegel erkrankt und todt niedergesunken sein, was natürlich übertrieben ist. Thatsache jedoch ist, daß diese junge Person ebenfalls zu den ersten Pestkranken zählte, und weitere Thatsache, daß, als der heirathslustige Kosak sich sehr bald darauf an eine Wittwe mit seinen Werbungen und Geschenken wandte, auch diese und ihre Kinder der Pest erlagen.

3) Der Pfarrer von Przizib (bei welchem der Geistliche von Wetljanka zur Beichte gegangen war) erzählt: „Als die dortige Epidemie auf ihrer Höhe war, gingen von hier drei Betschwestern dorthin, um ,über’ einigen Kranken zu beten. Sie kamen jedoch dabei mit denselben nicht in Berührung. An einem der nächsten Tage entdeckte der Küster hinter einem Muttergottesbilde in der Kirche ein Stück schweren, fremdartigen Seidenzeuges, wie es bei uns gar nicht bekannt ist. Am vierten Tage nach ihrer Rückkehr erkrankten jene drei Betschwestern, sowie auch eine ihnen dienende Magd, die gar nicht nach Wetljanka gekommen war. Alle Vier starben. Die Mutter aber gestand später, daß Jene das Seidenzeug in Wetljanka zum Geschenk erhalten und es von dorther mitgebracht hätten. Da ließ ich es schleunig und mit aller Vorsicht verbrennen.“

Auch der letzte noch im März ganz unerwartet aufgetretene vereinzelte Pestfall beweist auf’s Schlagendste, welche wichtige Rolle inficirte Effecten bei der Verschleppung der Pest spielen. Die Erkrankung betraf ein neunzehnjähriges Mädchen, das in einer zum Verbrennen bestimmten Kleiderkiste gewühlt hatte, welche die Hinterlassenschaft einer vollkommen ausgestorbenen Familie enthielt.

Wir dürfen damit wohl die Reihe der Details, welche auf eine Uebertragung im gedachten Sinne schließen lassen, beenden und nur noch daran erinnern, daß die Logik durchaus nicht gegen dieselbe spricht, und daß vom Beginne sehr vieler Pestepidemien durchaus ähnliche Thatsachen, wenn auch meistens etwas ausgeschmückt, berichtet werden.

Warum breitete sich die Epidemie in so fürchterlicher Weise aus, warum nahm sie – wie wir hier am besten einfügen – allmählich eine so hohe Gefährlichkeit an? – Weil bei der Mangelhaftigkeit der ärztlichen Institutionen jeder Begriff über den Charakter und die Bedeutung der Epidemie fehlte, weil Niemand auftrat, um die nothwendigsten Abwehrmaßregeln in dem Momente zu unternehmen, als es noch Zeit dazu war.

Die Schilderung, welche wir in unsern früheren Artikeln von den ärztlichen Einrichtungen auf dem platten Lande in Rußland gaben, gilt nicht für die Kosakengegenden. Diese haben vielmehr eine Selbstverwaltung bis in die höchsten Stellen hinauf und zwar der Art, daß die Regierung sich in gewöhnlichen Zeiten gar nicht hineinmischt. Während also der Kosakenhetman des Bezirks, der in Astrachan seinen Wohnsitz hat, sich durch so unzureichende Organe, wie sie sich ihm eben darboten, über die ungewöhnlichen Ereignisse zu informiren suchte, betrachtete die Regierung in Petersburg die ganze Sache als einen gar nicht in ihr Ressort gehörigen Vorfall, als eine interne Angelegenheit des Kosakendepartements, die, wie alle anderen, ihrer Zeit schon zur Erledigung kommen würde. Diesem eigenthümlichen Dualismus in der inneren Verwaltung haben diese unglücklichen Dörfer, hat besonders Wetljanka sein Geschick zu verdanken. Die schließliche Regierungsmaßregel, welche in der Ausstattung des Generals Graf Loris Melikoff mit dictatorischer Vollmacht bestand, war der einzige Ausweg, um den Willen der Regierung wirklich zur Geltung zu bringen.

Jedoch war der Zeitpunkt längst vorüber, in welchem diese Veranstaltung zur Bekämpfung der Pest in den schon ergriffenen Orten auch nur das Geringste hätte beitragen können. Sie diente der festeren Sicherung der bereits bestehenden Cordons, und sie hatte den Zweck, den Schutt und die Leichname aus den befallenen Dörfern wegzuräumen, um diese für die europäische Commission sichtbar zu machen. In Wetljanka hatte die Seuche sich ausgelebt; in den anderen Dörfern hatten die Bewohner selbst zur Abwehr mittelst der unbarmherzigsten Isolirungsmaßregeln gegriffen. Wer in Verdacht kam, krank zu sein, wer nur über Kopfschmerzen klagte oder ungewöhnlich aussah, wurde von den entsetzten Bauern in die bereits verseuchten Häuser eingesperrt und seinem Schicksal überlassen. So wurde die Krankheit auf einzelne wenige ergriffene Häuser und Familien, ja auf einzelne Personen beschränkt, nachdem man ihre furchtbare Gewalt erkannt hatte. Das Princip der Absperrung und Unschädlichmachung der einzelnen Infectionsherde hat sich in den nebenher befallenen Dörfern auf’s Schlagendste bewährt.

Mit diesen Thatsachen tritt die letzte Pestepidemie in die Reihe derjenigen, welche eher geeignet sind zu beruhigen als aufzuregen. Sie verlief anfangs milde und erreichte die kolossale Sterblichkeit erst in der elften Woche; sie wurde verkannt und wie das unschuldigste Leiden, wie eines, bei welchem an Ansteckung nicht zu denken sei, angesehen. Von ärztlichen Maßregeln war nicht die Rede, weil in der Zeit, in welcher wirkliche gebildete Aerzte nach Wetljanka kamen, das Krankheitsgift durch die Vernachlässigung bereits eine so furchtbar tödtende Kraft erlangt hatte, daß diese Aerzte nach wenigen Tagen selbst ergriffen wurden und starben. Es fehlte endlich an allen, auch den primitivsten vorbeugenden und hygienischen Maßregeln, weil der Mechanismus der Verwaltung solche gar nicht kannte und weil keine Behörde existirte, die sich zu ihrer Ausübung ermächtigt fühlte.

Wie stark mit diesen Verhältnissen die unsrigen contrastiren, deuteten wir bereits am Schlusse unseres ersten Artikels an und können uns hier daran genügen lassen, die unabweisbaren Lehren, welche man an Ort und Stelle gewonnen haben dürfte, kurz zusammenzufassen. Die Möglichkeit, rechtzeitig die etwa wieder ausbrechende Krankheit zu erkennen, ist ungleich näher gelegt als vorher. Speciell dürfte in Bezug auf die etwa durch Vergraben von Effecten in Wetljanka und Umgegend conservirten Pestkeime der Schrecken, dem die Bevölkerung unterlag, die beste Bürgschaft dafür bieten, daß diese Keime ewig begraben bleiben. Die gespannte Aufmerksamkeit, welche die Blicke administrativer und ärztlicher Beamten viele Monate lang an die Unglücksstätte gefesselt hielten, wird in den nächsten Jahren schwerlich ganz eingeschläfert werden; auch dürfte die Nothwendigkeit, die Kosakengegenden etwas fester in den Regierungsmechanismus einzufügen, grell genug hervorgetreten sein, um diese Frage als eine wichtige erscheinen zu lassen.

Die russische Regierung hat ein schweres Lehrgeld bezahlt. Es existiren noch keine officiellen Darlegungen über die Kosten, welche die Erschwerung des Verkehrs, die Unterbrechung der Handelsbeziehungen, die enorme Verminderung der Exporte, die Cordonnirung so großer Striche und die an Ort und Stelle zur Ausführung gelangten Maßregeln erfordert haben. Daß sie sehr bedeutend gewesen sein müssen, unterliegt keinem Zweifel.

Dr. A. W.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_523.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)