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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


Frau Huber,‘ sagte sie zu mir, in helle Thränen ausbrechend, ‚ich habe ihm seinen Willen gethan und habe ihn freigegeben.‘

Drei Tage blieb sie noch; vielleicht glaubte sie, der Baron werde doch wiederkommen; am Morgen des vierten war sie verschwunden. Am Abend desselben Tages kam aber wirklich der Baron wieder; er hatte es nicht über’s Herz bringen können, zu reisen, und wie er sie nicht mehr fand, verfiel er geradezu in Raserei über ihren wilden, unbändigen Trotz, wie er sagte, und riß die Büste dort von der Säule und schmetterte sie wüthend auf den Boden, daß sie in zwei Stücke brach – sie solle nun auch zu Grunde gehen, rief er, wie ihr Ebenbild.

Das war vor einem Jahre. Von dem Mädchen habe ich nichts mehr gehört, und der Baron ging dann wirklich auf Reisen nach Rom und Neapel. Auf meine Anfrage, die ich endlich durch dritte Hand an ihn gelangen ließ, kam die Mittheilung an mich, ich solle mit der Wohnung machen, was ich wolle, ja, ich dürfe sie sogar noch einmal vermiethen. Und Sie sind der Erste, der hier wieder eingezogen ist.“

„So?“ sagte ich, und schritt bedächtig im Zimmer auf und ab.

„Seltsamer Weise kam zur selben Stunde, da Sie Wohnung hier gemiethet hatten, ein fremdes Mädchen und beschwor mich, die Zimmer zu ebener Erde, die bisher ein Tischler inne gehabt, an sie abzugeben. Sie habe eine kranke Schwester, die ihr bisheriger Hauswirth nicht mehr in seinem Hause dulden wolle; sie seien in der namenlosesten Verzweiflung und würden mir’s ewig danken, wenn ich ihnen nur so lange Zuflucht geben würde, bis die kranke Schwester wieder genesen sei. Ich habe immer ein warmes Herz für Unglückliche gehabt und habe ihnen immer gern Gutes gethan. Am Abend des folgenden Tages zogen zugleich mit Ihnen denn auch die Schwestern ein; die Kranke freilich mußte aus dem Wagen in die Stube getragen werden, und dann begann sie im Bette gleich zu fiebern und irre zu reden, daß ich schon in jener Nacht an das nahe Ende der Aermsten glaubte. Welchen Schrecken ich aber empfand, als ich in dieser elenden Gestalt mein armes Fräulein wieder erkannte, werden Sie mir glauben. Nun lag sie hier unten auf dem Stroh und ohne Ahnung, welche goldene Zeit der Schönheit und der Liebe sie in dem nämlichen Hause vor Kurzem noch verlebt.“

„Hatte sie das Haus nicht wieder erkannt?“

„Nein, und ihre Schwester hatte die Wohnung ganz ahnungslos gemiethet. Aber es war bald, wie wenn ein seltsamer Geist über sie gekommen sei; die Erinnerungen des Hauses schwebten ihr deutlich vor den Sinnen, und ganz besonders war es die Marmorbüste dort, von der sie in ihren Irrreden immer und immer wieder sprach.“

„Die Marmorbüste?“ fiel ich hastig ein.

„Ja, sie nannte wiederholt ihren Namen, und aus den wirren, zusammenhangslosen, klagenden Reden hätte man glauben können, sie wisse, daß auch die arme Büste zerbrochen hier in Ihrem Zimmer liege. Aber das ist ja nicht möglich, da der Baron die Büste erst später von der Säule geworfen hat.“

„Seltsam, seltsam!“ sagte ich. „Und um wie viel Uhr war das?“

„Etwa zwischen zehn und elf Uhr. Gegen Mitternacht wurde sie ruhiger.“

Ich hütete mich, Frau Huber von meinem Traume zu erzählen; wer weiß, wie sie die Geschichte aufgenommen hätte. Die blieb am besten ein Geheimniß für mich. In diesem Augenblicke sollte kein Anderer mir sie deuten.

„Arme Klytia!“ sagte ich, vor die Büste tretend.

„Ganz recht,“ rief Frau Huber, „das war der Name, den sie immer nannte.“

„Und haben Sie,“ fragte ich weiter, „nichts von den Schicksalen der Unglücklichen gehört, nachdem sie Ihr Haus verlassen?“

„Nur wenig. Sie scheint ihre Schwester aufgesucht zu haben und bei dieser in eine hitzige Krankheit gefallen zu sein, in der sie ihre Stimme verlor.“

„Und dann?“

„Ich weiß nichts weiter, das Ende und den trüben Ausgang haben wir ja mit angesehen. Und offen gestanden, es widerstrebte mir, die Schwester auszufragen, die so ganz, ganz anders geartet schien.“

„Diese selbst ist in ihre Heimath zurückgekehrt?“

„Ein Verwandter ihres Hauses hat sie abgeholt – das hätte wohl früher geschehen müssen. Ich bin begierig, was sie jetzt noch aus ihr machen wollen,“ meinte meine Wirthin.

Zwei Tage nachher war ich abermals auf der Suche nach einer Wohnung. Frau Huber glaubte, als ich ihr Meldung davon machte, nicht recht gehört zu haben, und ich begriff mich auch nicht. Aber die Erinnerungen dieses Hauses erdrückten mich, und ob ich durch’s Zimmer schritt, oder am Schreibtisch an der Arbeit saß, immer war mir’s, als sähe ich das schöne Ebenbild der in ihrer Liebe ebenso zärtlichen und in ihrer Rache ebenso grausamen Nymphe vor mir im weißen Gewand, mit klagender Miene und mir, dem fremden Eindringling, ihre traurige Geschichte erzählend.

Nur die Marmorbüste der Klytia nahm ich mit Erlaubniß der Frau Huber mit mir fort, und, von kundiger Hand wieder hergestellt und auf einer schwarzen Säule wieder erhöht, schmückt sie noch heute eine Ecke meines Zimmers.




Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
Von C. Michael.
6. Anstand und feine Sitten im täglichen Verkehr.

Es giebt in dem, was man gemeinhin Bildung und feinen Anstand nennt, der Abstufungen und Unterschiede gar viele. Oft trifft man in Gesellschaft Leute, welche mit feinstem Geschmack gekleidet sind und sich in Sprache und Benehmen nach allen Regeln des besten Anstandes bewegen, und doch wird man ein gewisses ängstliches Gefühl beständiger Vorsicht ihnen gegenüber nicht los. Man sucht unwillkürlich das Gespräch blos in den allerbreitesten Heerstraßen des Gewöhnlichen fortzuschieben; man vermeidet sorgsam jede Gelegenheit, solch einen Menschen warm werden zu lassen, oder ihm den allergeringsten Theil von Vertraulichkeit zu zeigen; man hütet sich, ohne zu wissen warum, ihm gegenüber beständig vor irgend einer unbestimmten Gefahr. Und wieder Andere giebt es, Männer und Frauen, bei denen man von vornherein überzeugt ist, unser Gespräch mag welche Wendung immer nehmen, es wird nie etwas Rohes und Gemeines, es wird nie eine Aeußerung oder auch nur ein Blick vorkommen, bei welchem man anfängt, sich unbehaglich zu fühlen. – Das sind die Menschen, die nicht blos gebildet handeln und sprechen, sondern auch fein denken und empfinden – darin liegt der ungeheure Unterschied.

Solche Menschen, denen das Gefühl für Anstand und feine Sitten gleichsam im Blute liegt, sind gesucht und geliebt von den Besten aller Stände und Classen; ist es doch ihr schönes Vorrecht, daß sie den tiefer Stehenden zu sich emporheben, sich von höher Gestellten nie einschüchtern lassen und stets und überall den rechten Ton zu treffen wissen.

Die äußere Form des feinen Tacts nennt man „Anstand“; der Geist, die Seele aber, aus welcher der Anstand entspringen muß, ist ein so allumfassendes Wesen, daß man fast behaupten kann, es schließe alle größten, erhabensten Tugenden des Menschen in seinem Rahmen ein. Allgemeine, selbstlose Menschenliebe und Achtung ist der Kern davon, aber es gehört auch gründliches Wissen, fester Charakter, Bescheidenheit und richtige Selbsterkenntniß, Umsicht und Klugheit – es gehört so viel dazu, um diesen inneren feinen Tact in allen Lebenslagen zu bethätigen, daß ich wohl behaupten darf, er kann als Maßstab für den Werth eines Menschen gelten.

Wird nun von diesen beiden Theilen des feinen Tactes nur der erstere, der äußerliche Anstand, gepflegt und geübt, ohne den Geist, der die Form beseelen muß, so erhält man dadurch eine gefährliche Waffe zur Täuschung seiner Mitmenschen. Es gehen leider gar Viele durch die Welt, die sich diese Waffe zu erschwindeln gewußt haben und sich mittelst derselben zu dem Vertrauen Leichtgläubiger Bahn brechen. – Wird hingegen die äußere Form vernachlässigt, so bleibt der Geist, die Seele der guten Sitte, ein unsichtbares Wesen, das nicht erkannt und nicht beachtet wird. Nur Beides in harmonischer Vereinigung kann zu einem wahrhaft großen Segen für den Eigenthümer werden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_478.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)