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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


No. 27. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Im Schillingshof.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


18.

Die Magd öffnete mit scheuer Hand das Gartenthor des vornehmen Hauses und eilte spornstreichs nach dem Klostergut zurück, während José auf das Säulenhaus zulief.... Es war sehr still im Vorgarten – man hörte die eilenden Schritte des Kindes auf dem knirschenden Sande.

Auf diese Laute hin kam plötzlich die dicke, schwarze Deborah um die südliche Ecke des Hauses – sie stieß einen Schrei aus und stürzte unter grotesken Sprüngen und Armbewegungen auf den Knaben zu.

„O mein Jesus – bist Du es denn wirklich, Kind?“ stammelte sie, und aus den dickverschwollenen Augen schossen erleichternde Thränen. „Liebchen, Liebchen, was machst Du für Sachen! Kommst da von der fremden Straße her, von der fremden Straße, wo Niemand unseren süßen Jungen kennt – o Jesus! Bist ja noch nie fortgewesen, böses, liebes Kind, noch nie! Konntest überfahren werden, und Jack und Deborah sind nun schuld, haben nicht aufgepaßt, o!... Seit Stunden rennt Alles nach Dir, und jetzt suchen sie unser Goldkind im Teich, im schwarzen, schlammigen Wasser bei den Fischen – hu! Arme, arme, gute Tante – sie stirbt vor Angst.“

Das Alles stieß sie keuchend, in einem seltsamen Gemisch von Deutsch und Englisch hervor, während sie mit dem Knaben durch Allee und Garten nach dem Teich rannte.

Dort unter den Linden waren alle Leute des Schillingshofes, auch der Herr des Hauses und Jack, in Thätigkeit. Wie ein Schwan hob sich die weiße Gestalt der schönen „Spanierin“ aus dem Durcheinander der Hantierenden – sie lehnte regungslos an einem der Lindenstämme und hielt José’s Hütchen, das man am Teich gefunden hatte, mit beiden Händen fest gegen die Brust gedrückt. Diese Frau, die, den Sarraß am Gürtel und den Revolver in der Hand, in die Nähe des Feindes vorgedrungen, die den Transport eines schwerverwundeten Mannes durch weite, verwüstete Landstrecken energisch durchgeführt, sie gehörte nicht zu denen, die ihrer Angst durch Wehklagen Luft machen.

„Er ist da!“ rief Deborah hinüber.

Wie eine hineinfallende Bombe jagte dieser Aufschrei die Versammelten aus einander. Beim Anblick des Kindes, das heil und unversehrt an Deborah’s Hand quer über den nächsten Rasenplatz stolperte, klärten sich die Gesichter auf – man sah sich lächelnd an und begriff mit einem Mal nicht mehr, wie man sich habe einbilden können, es müsse durchaus ertrunken sein.

Donna Mercedes gab bei diesem jähen Wechsel von Todesangst und Freude nicht einen Laut von sich, und als sie das Haupt nach den Kommenden zurückwandte, da lag noch der Ausdruck des stieren Entsetzens, mit welchem sie in die Wassertiefe geblickt hatte, wie versteinert auf dem farblosen Gesicht. Man sah, sie war im Hause durch alle staubigen Winkel und draußen zwischen unwegsamem Gebüsch und dornigen Hecken suchend geirrt. Der weiße Muslin schleifte zerfetzt und beschmutzt auf dem Boden nach, und das Dickicht hatte an dem Haarnetz gezerrt – ein Theil des wundervollen dicken „Zigeunerhaares“, wie Lucile es bis auf den heutigen Tag nannte, wogte im tiefbläulichen Glanze, noch halb von den Seidenschlingen gefangen, über die rechte Schulter. Mit wankenden Knieen ging sie dem Kind entgegen – Baron Schilling bot ihr die stützende Hand, aber sie wies sie zurück; ihr Blick hing brennend an dem Knaben, der im zerrissenen Höschen, und noch glühend vor Erhitzung, in ihre Arme lief.

„Du bist ungehorsam gewesen, José, Du bist fortgelaufen,“ sagte sie mit bebender Stimme, in ernst strafendem Tone.

Der Knabe versicherte weinend, daß er es nie, nie wieder thun wolle, und dann beichtete er, nach Kinderart in sprunghafter, abgebrochener Redeweise, sein Abenteuer auf dem Klostergute, während sich die Leute des Hauses auf einen Wink ihres Herrn entfernten.

Und der Kleine erzählte von der schrecklichen Rumpelkammer und dem großen, boshaften Jungen, wie von der Frau, die ihm so streng und rauh verboten, zu sprechen, und „dem furchtbar bösen Mann“, der nach ihm hatte schlagen wollen.

Diese Mittheilungen waren von unbeschreiblicher Wirkung auf Mercedes. Ihr südliches Naturell, meist durch einen überlegenen Verstand kräftig niedergehalten, loderte empor; die Hände auf den Busen gepreßt, ging sie fliegenden Schrittes auf dem schmalen, zum Säulenhause laufenden Wege hin und her und schüttelte ungeduldig die Hand Deborah’s ab, die schüchtern den Versuch machte, ihr das gelöste Haar unter das Netz zu stecken – was kümmerte sie in diesem Augenblick ihr Aeußeres?

„Was nun?“ fragte sie mit schneidendem Lächeln, als José verstummte.

Baron Schilling hatte ihm eben, Schweigen gebietend, die Hand auf den kleinen Mund gelegt, der in fieberhafter Aufregung immer wieder auf das Erscheinen „der großen Maus“ und auf den Moment zurückkam, wo sich die entsetzliche Thür zwischen die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 445. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_445.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)