Seite:Die Gartenlaube (1879) 443.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Sie schlich auf den Gang hinaus und versuchte durch das Schlüsselloch einer stets verschlossenen Thür in Rudolph’s Zimmer zu spähen – vergebens. Ein undurchsichtiger Gegenstand verdeckte dasselbe von der andern Seite. Nun versuchte sie zu horchen, das Ohr an die Thür gelegt. Von Zeit zu Zeit hörte sie ihn hin und her gehen; dazwischen vernahm sie deutlich das Geräusch vom Auf- und Zuschließen verschiedener Schlösser. Dann war wieder Alles still, so still, daß einmal ein schwerer Seufzer von dorther ihr Ohr traf. Sie seufzte leise mit.

Wie sie so dastand in stiller, dunkler Nacht und mit Herzklopfen auf sein Thun und Treiben horchte, begann sie sich seine Gestalt, sein Gesicht, seinen Ausdruck lebhaft vorzustellen. Es that ihr so leid, daß er noch immer so gebeugt, so kraftlos einherging, daß seine Haut noch immer so farblos, sein Auge so matt und traurig aussah!

Wie manche Woche war schon verstrichen, seit sie ihn mit dem guten Vorsatz herbrachte, ihn hier unter ihrer und Hanna’s Pflege wieder zu einem gesunden Menschen zu machen! Was hatte sie denn für ihn gethan? War es genug, daß sie für Speise und Trank, für einen geschickten Arzt, für stärkende Heilmittel sorgte? Doch was konnte sie sonst für ihn thun? Gäbe es denn eine Frau auf der ganzen Welt, die das vergeben und vergessen könnte, was er ihr angethan? Vergeben? Ja! Hatte sie ihm nicht vergeben, als sie seinem Rufe an das vermeintliche Sterbebett folgte? Aber Vergessen? – Vergessen?

Sie kam nicht dazu, sich diese Frage zu beantworten; denn drinnen begann es wieder, sich zu regen. Ein schmerzliches Stöhnen schien sich Rudolph’s Brust zu entringen. Leise Klagetöne, die unverständlichen Worten glichen, drangen durch die Thür, an die Clotilde lehnte. Dann wieder das Geräusch seiner Tritte und eines behutsamen, leisen Oeffnens der gegenüberliegenden Thür, durch die man aus Rudolph’s Zimmer auf den großen Vorplatz gelangte. Sie schlich an’s kleine Fenster des schmalen Ganges, auf dem sie stand, das auf die Straße führte, und vernahm, wie auch der Schlüssel in der Hausthür sich leise drehte und diese behutsam geöffnet wurde. Ihre scharfen Augen erkannten trotz der nächtlichen Dunkelheit die hohe, aber gebeugte Gestalt ihres Mannes, der mit schwankenden Schritten und doch mit großer Geschwindigkeit ihren Blicken entschwand. Was trug er unter dem Arm? Wohin so eilig zu der späten Stunde?

Clotilde wollte an’s Fenster klopfen, rufen – aber auf halbem Wege hielt ihre Hand inne. Pflegte sie denn sonst auch ihn besorgt anzurufen, wenn er hinausging? Warum denn jetzt?

Sie stand noch lauschend da – drinnen und draußen war nun Alles still. Ein unheimliches Gefühl beschlich sie, und ihre Kniee begannen zu zittern; sie wußte selbst nicht warum. War es denn etwas so Unerhörtes, wenn Rudolph in der lauen Sommernacht vor dem Schlafengehen noch einen Spaziergang machte? Freilich ein leichtsinniges Unternehmen blieb es immer für einen Genesenden, denn wenn sie nicht irrte, so schlug es vorhin schon Zwölf vom Kirchthurm. … Es geht auch kein Zug mehr, dachte Clotilde weiter. Fort kann er nicht. Aber wohin, wohin denn? Ob in seiner Stube noch Licht brennt? Warum sehe ich nicht nach?

Sie verließ den Platz, aus dem sie noch immer stand, und ging eiligst in ihr Zimmer, um die Lampe zur Hand zu nehmen. Doch sie hastete so sehr, daß die Lampe erlosch. Ihre Finger bebten wie ihre Kniee, als sie endlich ihr Feuerzeug im Dunkeln ertappt und die Lampe wieder angezündet hatte; es war wieder hell um sie her, aber ihre unerklärliche Angst wollte nicht weichen. Geräuschlos schlich sie über den Vorplatz, öffnete Rudolph’s Thür. Es war dunkel drinnen. Sie schritt über die Schwelle und sah sein unberührtes Lager, das so verwaist dastand, so unheimlich leer. Der Schein ihrer Lampe fiel auf zwei helle Gegenstände, die neben einander auf dem dunklen Sophatische lagen. Clotilde trat näher. Es war eine Photographie – ihr Bild, das sie ihm als Braut geschenkt! Daneben lag ein Brief mit ihrer Adresse. Sie setzte die Lampe auf den Tisch, denn ihre Hand zitterte immer heftiger.

Ein Tropfen auf der Photographie – sie dachte: es ist eine Thräne – glänzte, als der helle Schein auf dieselbe fiel. „Wie ein Edelstein!“ dachte sie trotz der Angst, die ihr Herz zu schnelleren Schlägen trieb. Mit unsicheren Fingern zerriß sie das Couvert, das den Brief umschloß, und mit flimmernden Augen las sie, was auf dem Blatte stand:

„Meine geliebte Clotilde, die ich einst mein Eigen genannt, die ich, ein Verblendeter, dann schmachvoll verrieth und die wie ein Engel des Erbarmens an mein elendes Lager trat und mich dem Tode entriß, vergieb mir den letzten Schmerz, den ich Dir nun zu bereiten gehe! Glaube mir, es ist so besser für uns Beide! Dein liebes Herz, wenn auch von Edelmuth und hohem Sinn erfüllt, es kann die bittere Kränkung nicht verwinden, so lange der Sünder Dir vor Augen lebt! Sie nagt an Dir, wie ein Wurm, der nimmer rastet, und muß Dich vernichten. Ist er dahin, der Schuldbeladene, so wird Deine verstörte Seele wieder zur Ruhe kommen, so wird das Vergessen – wenn auch erst nach Jahr und Tag – sich wie ein sanfter Balsam auf die Wunde legen. Und ich! O Clotilde! Einen Tod zu sterben, kann nicht schwer sein, wenn man schon tausend Tode gestorben ist. In dem kleinen Gehölze, das nicht fern hinter Deinem Garten liegt, gehe ich, das stille Plätzchen aufzusuchen, an welchem mein Entschluß reifte. Dort, unter der Eiche neben dem kleinen See, wirst Du mich morgen schlafend finden. Wenn Du mich zur ewigen Ruhe bettest, lege mir Dein Bild auf’s Herz, das ich niemals von mir ließ, auch nicht in den dunkelsten Tagen meines Lebens. Ich trenne mich von ihm für eine kurze Weile, um es vor unberufenen Augen zu schützen, falls mich unberufene Hände vor Dir finden sollten. Lebe wohl, Clotilde! Du Edle, Du Reine! Ich küsse dankbar Deine lieben Hände. O, mir wird leicht und frei um’s Herz. Mir ist, als ob ich wieder Deiner würdig werde. Vergieb mir! Rudolph.“

Als Clotilde mit fliegendem Athem bis an’s Ende gelesen, sank sie mit leisem Schrei zu Boden, doch die Angst hielt ihre Lebensgeister wach. Schnell richtete sie sich wieder auf.

„O, wie viel edle Zeit ist vergangen,“ jammerte sie, „seit ich ihn das Haus verlassen sah!“

Wie sie ging und stand, stürmte sie zur Gartenthür hinaus. Sie kannte eine niedrige Stelle in der Gartenmauer, die sie mit Hülfe einer kleinen Leiter zu erklettern dachte. Die Abkürzung des Weges, die sie dadurch gewann, legte ihr die Möglichkeit nahe, ihn zu retten. … Vergebens! Die Leiter hing zufällig heute nicht an ihrem Platz und war bei der Finsterniß, die unter den hohen Bäumen herrschte, nirgends aufzufinden. Sie mußte durch das Haus zurück und um die Mauer des Gartens herum – ein weiter Bogen, den sie in fliegender Eile zurücklegte. In ihren Gedanken stürmte es so wild, wie die Wolken am Himmel dahinjagten, die den Mond verhüllten. . . .

„O mein Gott! Ich die ‚Reine’, ‚die Edle’!“ dachte sie. „ Seine Mörderin bin ich, seine erbarmungslose Mörderin, wenn es mir nicht gelingt, ihm die tödtende Waffe aus der Hand zu winden. Gott im Himmel, du kannst es nicht wollen, daß er mir entschlüpft, daß ich nicht wieder gut machen kann, was ich in der verstockten Härte meines Herzens an ihm verschuldete. O, hätte ich auf Hanna’s warnende Stimme gehört, heute Abend, als es noch Zeit war! Ja, sie hat Recht. Er hat schwer gebüßt.“

Als sie die lange Allee erreichte, die zum Hölzchen führte, drohten ihre Kräfte sie zu verlassen. Sie lehnte sich an einen Baum und rang nach Athem. Dann lief sie mit neuem Muth über den geebneten Weg dahin. Der leichte Schatten, den das verhüllte Mondlicht warf, zog neben ihr her, wie ein entfliehender Geist. Ein Grausen erfaßte sie und trieb sie zu immer größerer Eile. Endlich hatte sie das kleine Gehölz erreicht und lief auf kürzestem Wege der bezeichnete Stelle zu, die vor Zeiten auch ihr Lieblingsplätzchen war. Bei der letzten Biegung hielt sie inne und horchte. Alles still, so grauenhaft still rings um sie her! Da! Ein leises Geräusch. Sie kannte es nicht, aber eine fürchterliche Ahnung sagte ihr, daß es das Knacken eines Pistolenhahnes sei. …

„Rudolph, Rudolph! Halt ein!“ rief sie, so laut sie konnte, und eilte vorwärts. „Rudolph, ich bin da – Deine Clotilde!“

Ein Schuß krachte. Das Echo gab ihn in der Stille der Nacht von Baum zu Baum.

Sinnlos stürmte sie weiter, bis sie die Eiche an dem kleinen See erreichte. Eine dunkle Gestalt lehnte sitzend daran, das Haupt tief auf die Brust geneigt. Neben ihr sank Clotilde besinnungslos nieder. – –

Als sie wieder erwachte, schien der Mond ihr unverhüllt

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 443. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_443.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)