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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

schickte ich regelmäßig ein, aber nur ein einziges Mal bekam ich die Kunde von erfreulicher Besserung. Zugleich theilte mir die Pflegerin mit, daß sie die Stadt verlasse. Eine andere Frau, die Besitzerin dieses Hauses, werde den Kranken unter denselben Bedingungen bis zu seiner gänzlichen Herstellung verpflegen. … Und dieser Brief –“ sie übergab Doctor Solms das Schreiben des kleinen Mädchens – „berief mich heute her.“

Der Arzt war an’s Bett getreten und prüfte den Kranken mit kundiger Hand und geübtem Ohr.

„Es steht schlimm,“ flüsterte er Clotilden zu. „Während der Krankheit meines Vorgängers mag es hier mit der ärztlichen Hülfe traurig genug bestellt gewesen sein, aber warum hat das gewissenlose Weib mich nicht zu Rathe gezogen, seit ich hier bin? Hunger hat ihn so weit gebracht.“

Clotilde weinte bitterlich.

„Und was nun?“ fragte sie rathlos. „In dieser dumpfen Höhle kann er unmöglich bleiben. Wird man bei seiner Schwäche einen Transport wagen dürfen?“

„Ich hoffe es,“ sagte der Doctor. „Ich bitte Sie, gnädige Frau, über unbenutzte Zimmer in meinem Hause zu verfügen. Bessere Luft und bessere Ernährung werden, denke ich, Wunder thun.“

„So glauben Sie an eine Herstellung?“

„Ich halte sie wenigstens nicht für unmöglich. Werden Sie selber bis dahin hier am Orte verweilen?“

Die junge Frau sah in stummer Verwirrung vor sich nieder. „Jedenfalls werde ich eine Entscheidung abwarten,“ sagte sie nach kurzem Bedenken.

„Wir würden gut thun, noch vor Einbruch der Nacht den Umzug zu bewerkstelligen, gnädige Frau. Ueberlassen Sie mir die Sorge für Alles. Auch die Abfindung mit dem schändlichen Weibe! Und gestatten Sie mir, Sie zu meiner Schwester zu führen, die meinem kleinen Haushalte vorsteht!“

„Ihre Schwester ist hier? meine gute Sophie?“ sagte Clotilde und ein heller Schein von Freude glitt über ihre kummervollen Züge. „Alte Freunde soll ich hier finden in der Fremde, wo ich mich in allem Elende so verlassen glaubte – und Theilnahme und Güte!“ – – Sie reichte dem ergriffenen jungen Manne ihre Hand, die er in herzlicher Verehrung an die Lippen führte.

Einen Blick voll schmerzlichen Erbarmens warf sie noch auf den schlummernden Kranken, und verließ an der Hand des Arztes das elende Gemach.




9.

Während in schlaflosen Nächten und wechselvollen Tagen die widersprechendsten Gefühle Clotildens Brust durchwogten, während sie bald mit weichem Mitleid die schweren Leiden ihres Kranken zu lindern suchte, bald mit erneutem Schmerz die Wunde bluten fühlte, die er so erbarmungslos ihrem Herzen geschlagen hatte, saß die alte Hanna daheim in den leeren Räumen und verging fast in Sorge über das Schicksal ihrer Herrin, von der ihr kein Lebenszeichen kam.

„Hätte ich, statt meines Vaters Gänse zu hüten, doch in meiner Jugend lesen und schreiben gelernt! Vielleicht hätte die liebe gnädige Frau ihrer alten Hanna dann einen Brief geschrieben. Aber sie weiß, wie vergeblich die Mühe ist.“

Endlich nach manchem Tage des Harrens kam eines Morgens die Freundin Clotildens mit einem Brief in der Hand.

„Hier, meine gute Hanna, hier giebt es etwas Neues. Heimkehr giebt es! Ihre alten Beine und Ihre fleißigen Hände werden nun wohl Arbeit vollauf finden; denn Frau von Brauneck kommt nicht allein.“

Mit offenem Munde und mit Thränen in den Augen hörte die Alte voll Andacht an, was Clotildens Freundin ihr von der traurigen Geschichte zu erzählen beauftragt war. Ein Mal über das andere schlug sie die Hände zusammen und ihr grauer Kopf ging wie ein Perpendikel hin und her.

„Herr Du meines Lebens! Wie kann so etwas nur möglich sein! Ja, die Männer, die Männer! Hab’s immer geahnt, daß das arme liebe Herz eine ganz besondere Last zu tragen habe, aber von so einem schweren Stück ließ ich mir nicht träumen. Und wie sie es getragen hat! Du mein Himmel! Es giebt ja auf der ganzen Welt nichts Aehnliches!“

„Ja, meine gute Hanna, Ihre gnädige Frau ist ein Heldin. Aber nun gilt es, daß auch Sie sich fassen. Bis heute Abend also wäre das Schlafgemach der gnädigen Frau für den Kranken herzurichten – mit allen Bequemlichkeiten, die es im Hause giebt. Das Zimmer nebenan ist für Sie, Hanna, damit Sie stets zu seiner Pflege bei der Hand sind.“ – –

Der Abend kam und die Stunde, wo Hanna ihre Herrschaft erwarten konnte. Ihr Herz klopfte lebhaft, und sie konnte sich gar keine Vorstellung davon machen, wie sie ihrem Herrn begegnen werde, der ihrer herzensgnädigen Frau ein so himmelschreiendes Unrecht zugefügt hatte. Aber als aus dem Wagen, der die Reisenden vom Bahnhof brachte, der todtbleiche, hülflose, blinde Mann herausschwankte und auf ihre alten Schultern gestützt die Schwelle überschritt – da hatte auch in Hanna’s Herzen neben dem Mitleid keine andere Empfindung Raum.

Sorglich half sie ihm, das bequeme Lager aufzusuchen, das sie am Morgen fast mit Widerwillen für ihn bereitet hatte, und mit gefalteten Händen beobachtete sie voll Freude, daß er bald in einen sanften Schlummer fiel.

Clotilde saß in ihrem Arbeitszimmer, als Hanna sie aufzusuchen ging. Ihre müden Augen hielt sie geschlossen, und die zarten Hände ruhten unthätig im Schooß. Sie schaute freundlich auf, als Hanna sich ihr näherte, und reichte ihr stumm die Rechte.

Die gute Alte fühlte sich von dem Anblick der schönen jungen Dulderin so überwältigt, daß sie vor ihr auf die Kniee sank und laut schluchzend ihre überströmenden Augen in Clotildens Schooß verbarg. Eine Weile ließ diese sie ruhig gewähren, bemüht, ihre eigenen Thränen zurückzudrängen. Dann hob sie ihr den grauen Kopf empor und sah ihr ernst in die alten treuen Augen.

„Meine Hanna,“ sagte sie, „Du weißt nun, wie viel Schmerz ich verbarg. Laß uns auch ferner über Alles schweigen! Ich wollte, ich könnte den Stachel aus meinem Herzen ziehen aber es ist umsonst; ich fühle, er hat dort zu tief Wurzel gefaßt. Auch die Zeit, fürchte ich, kann hier nicht helfen. … Du verstehst mich, Hanna – nicht wahr? Und wir Beide werden schweigend unsere Schuldigkeit thun.“

(Schluß folgt.)




Die Patagonier.
Von Richard Oberländer.

Die Völkerkunde ist eine junge Wissenschaft. Als man noch weniger reiste und die Hülfswissenschaften der Völkerkunde noch in den Windeln lagen, da war oft das, was man sich von den Menschen erzählte, die „über dem Berge“ wohnten, ganz wundersamer Art. Mit den Fortschritten der Wissenschaft schwanden selbstverständlich die Wunderberichte und der Glaube an dieselben, und wenngleich es heute noch bisweilen vorkommt, daß Reisende es mit ihren Berichten nur wenig genau nehmen und allzu kräftige Farben auftragen, um sich interessant zu machen, so verfallen sie doch nur zu bald der scharfen Section der Kritik, welche unnachsichtlich das Messer ansetzt und Ungesundes auszuschneiden versteht.

Namentlich in dem letzten halben Jahrhunderte, das so viele Entdeckungen aufzuweisen und schon so viele Räthsel gelöst hat, wurde das Studium der Menschenracen mit einer großen Menge von Thatsachen bereichert. Afrika, das unwirthbare, ist in unseren Tagen nicht mehr undurchdringlich, Australiens Festland gleichfalls von einem Ende bis zum andern durchzogen worden; an allen Küsten der verschiedenen Oceane landen europäische Fahrzeuge; Kaufleute, Missionäre und Männer der Wissenschaft dringen bis tief in’s Innere der Continente. Fast alle Völker des Erdballes sind beobachtet, beschrieben und bildlich dargestellt worden; man studirt ihre Sitten, ihre Sprache und ihre Religion, ihre Gewerbsamkeit und ihre Ueberlieferungen; unsere Museen sind reich an Waffen und Geräthen von allerlei Völkern; wir besitzen Schädel und Gerippe aus allen Weltgegenden, Trachten und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 423. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_423.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)