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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

den communalen und staatlichen Behörden. Der Kampf gegen Pauperismus und Entsittlichung ist eine Kunst, die erlernt sein will und keinen tändelnden Dilettantismus erträgt. Ihre Erlernung und Ausübung nimmt aber weitaus nicht so viel Zeit und Mühe in Anspruch, wie Manche glauben dürften, dafür aber desto mehr guten Willen und Beharrlichkeit.

Die seit etwa zwei Jahren von der Presse lebhaft betriebene Agitation gegen unbesonnenes Almosengeben scheint an einigen Stellen über das Ziel hinausgegangen und namentlich Wanderburschen dem Elend überliefert zu haben. Nach neuesten Zeitungsberichten sollen sogar Fälle von Hungertyphus vorliegen. Das wäre eine neue dringende Mahnung, der zumal in arbeitsloser Zeit durchaus unzulänglichen polizeilichen Armenpflege auf socialem Wege kräftig und methodisch zu Hülfe zu kommen.

Möchten diese Andeutungen dem Dienst der außerpolizeilichen Armenpflege eine Anzahl neuer Rekruten werben und namentlich die locale Vereins- und Privatthätigkeit anregen helfen! Nur wenn sich ein zahlreiches, schlagfertiges Volksheer bildet gegen Noth und Elend, sowie gegen verkehrte Abhülfsmittel, können Zeiten wiederkehren, wie wir Alle sie ersehnen.

Adolf Gumprecht.



Die vlamische Bewegung.

Von Dr. Gustav Dannehl.
3. Der Willemsfonds.

Die Thätigkeit des „Willemsfonds-Vereins“, von dem ich Näheres mitzutheilen versprach, verdient als ein Muster planvoller, energischer und dabei durchaus loyaler Propaganda für kirchliche und politische Freiheit hingestellt zu werden.

In den siebenundzwanzig Jahren seines Bestehens sind die Mitglieder dieses Vereines von vierzig bis auf über zweitausend angewachsen, und ein bedeutender Theil der Riesenaufgabe, welche sich dieselbe gestellt hatten, ist bereits gelöst. Ohne ihr thätiges, umsichtiges Wirken hätte Belgien sicher noch sein clericales Ministerium und seine clericale Volksvertretung, wären die Sprachrechte der Vlamingen noch immer verkümmert geblieben, während jetzt in Folge des endlich glücklich durchgebrachten Landessprachgesetzes die Gleichstellung beider Nationalitäten wenigstens im Princip erreicht wurde. Und was mehr ist: in die trägen vlamischen Massen, die, durch ein pfäffisches Verdummungssystem ohne Gleichen von ihrer einstigen Culturhöhe herabgedrückt, fast nur noch vegetirten, ist ein Lichtstrahl nach dem andern gefallen.

Ein neues Geschlecht reift heran, und die kluge Geistlichkeit wird dasselbe nicht wie bisher davor bewahren können, daß es die verderbliche Kunst des Lesens lernt, wie das bei der Mehrzahl der ihr anvertrauten Schulen bisher der Fall gewesen ist.

Die Abtheilungen des Vereins sind über das ganze niederdeutsche Gebiet Belgiens verzweigt; jede derselben hat je einen Vorsitzenden, Schatzmeister, Schriftführer und mehrere andere Vorstandsmitglieder. Der Centralvorstand hat seinen Sitz in Gent. Derselbe giebt alljährlich eine Vereinsschrift heraus, welche gegen den Beitrag von sechs Franken an sämmtliche Mitglieder versandt und außerdem auf buchhändlerischem Wege vertrieben wird. Dieses Jahrbuch enthält in seinem geschäftlichen Theil eine genaue Darlegung der Thätigkeit jeder Abtheilung, in dem zweiten literarischen Theil einige Novellen und Gedichte, sowie eine Reihe populärwissenschaftlicher Abhandlungen aus allen Gebieten des menschlichen Wissens. Außerdem werden noch alljährlich populärwissenschaftliche Schriften, Volksbücher im besten Sinne des Wortes, ausgegeben und nach Kräften unter der vlamischen Bevölkerung verbreitet. Vaterländische Geschichte, Lebensbilder echter Volksmänner des In- und Auslandes, Reisen, Kunst-, Literatur- und Culturgeschichte, Volksgesundheits- und Volkswirthschaftslehre, Technologie und Naturwissenschaften sind die Gegenstände, welche so in faßlicher, frischer Form dem Volke zugänglich gemacht werden. Noch unmittelbarer weiß man durch öffentliche Vorträge auf das Volk einzuwirken, welche an manchen Orten allwöchentlich, in kleineren Orten wenigstens ein- oder zweimal im Monat gehalten werden. Nicht blos die Mitglieder, sondern Jedermann hat unentgeltlich Zutritt zu denselben. Diese Vorträge sind stets mit Vocal- und Instrumental-Concerten, sowie mit Declamationen vlamischer Originaldichtungen verbunden und helfen somit zugleich der nationalen Musik und Dichtung die Wege ebnen. Für die schönen Künste wird vom Staate viel gethan; nicht blos die größten Städte haben ihre Conservatorien und Kunstakademien; da nun außerdem für Musik auch wirklich viel Sinn herrscht, so wird in solchen Concerten wirklich Nennenswerthes geleistet. Ich habe in kleineren Städten vorzügliche Männer- und gemischte Chöre gehört, und das überhaupt schwer zu beweisende Frisia non cantat ist sicherlich nicht auf die gesangeslustigen Bewohner des lachenden Flanderns auszudehnen. Die erwähnten Vorträge werden fast ausnahmslos in ziemlich bedeutenden Auflagen gedruckt und unentgeltlich unter Allen, die sie lesen wollen oder – können, verbreitet.

Als ich vor einiger Zeit dem Centralvorstand des Vereins die Mittheilung machte, daß ich von der Redaction der „Gartenlaube“ beauftragt sei, den Stammgenossen in Deutschland über den Willemsfonds zu berichten, überraschte mich der Dichter Julius Vuylsteke, der Secretär des Centralvorstandes, durch Uebersendung einer vollständigen Sammlung dieser Vorträge. Es finden sich treffliche Arbeiten in der weit über hundert Heftchen zählenden Sammlung: eine ganze Culturgeschichte des urgermanischen Landes, manche verherrlichende Darstellung der Ereignisse vaterländischer Gedenktage von der Schlacht der „goldenen Sporen“ bis Waterloo, manches interessante Lebensbild von Männern, welche ihr Genie, ihre Kraft, ihr Leben der Sache des vlamischen Volksthums geweiht haben im Kampf gegen Welschthum und „Römischgesinntheit“, wie Breydel und de Koningk, Marnix von St. Aldegonde, die Artevelde, Oranien, der große Schweiger und Andere. Auch mancher Dichter, Künstler und Forscher wird uns in anziehender Weise vorgeführt, während zahlreiche andere Beiträge sich mit Sprache und Volkspoesie, mit dem Gegensatze germanischen und romanischen Volksthums, mit Fragen nationaler Beziehung und Wissenschaft, mit archivalischen Darlegungen der alten Gerechtsame und Institutionen der ebenso klugen und betriebsamen, wie mannhaften Vorfahren aus der Blüthezeit Flanderns, den Sitten, Gebräuchen und Erzeugnissen der großen Vergangenheit beschäftigen. Aber auch die Ereignisse, Thaten und wissenschaftlichen Ergebnisse der Gegenwart finden eingehende Berücksichtigung. So sucht dieser thätige Verein nach allen Seiten hin Licht zu verbreiten und das Nationalgefühl zu wecken. Selbst jedes der Programme für die oben erwähnten Concerte und Vorträge ist mit einigen Gedichten, Sentenzen oder historischen Daten bedruckt.

Aber man würde die Thätigkeit dieses Vereins sehr unterschätzen, wenn man annehmen wollte, sie sei damit erschöpft. „Ohne Ausschließung aller anderen Maßregeln, die zu den dem Verein vorgesteckten Zielen führen,“ heißt es in den allgemeinen „Grondslagen“, „wird den Vorstandsmitgliedern des Willemsfonds namentlich Folgendes an’s Herz gelegt:

Was erstens das Studium und den Gebrauch der vlamischen Sprache anbetrifft, so sollen aus dem Willemsfonds unterstützt oder prämiirt werden: Studirende und Schüler mittlerer und höherer Lehranstalten, welche sich mit Vorliebe dem Studium der Muttersprache hingeben; Zöglinge aus dem wallonische Gebiete, welche sich durch Erlernung des Vlamischen auszeichnen; Verfasser solcher niederländischer (vlamischer) Schriften, welche von der königlich belgischen Akademie der Wissenschaften oder von anderen gelehrten Gesellschaften gekrönt sind; Zeichner und Kupferstecher, welche am meisten dazu beigetragen haben, Werke niederländischer Maler durch Nachbildungen populär zu machen; tüchtige vlamische Schauspieler; Zeitungen, welche sich als die muthigsten und redlichsten Vertheidiger der Muttersprache bewährt haben.“

Was zweitens die verstandesmäßige und sittliche Entwickelung der vlamischen Bevölkerung anbetrifft, so ist es die Aufgabe des Vereins, möglichst oft und an möglichst vielen Orten Vorträge der oben geschilderten Art zu veranstalten, nützliche Werke anzukaufen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_400.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)