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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

wo der Arm der Behörde nicht mehr hinreicht, und besteht wesentlich darin, die Quellen der Verarmung aufzusuchen und so weit als thunlich zu verstopfen, den Erwerbsfähigen Arbeit nachzuweisen, Träge zu spornen, Rathlose zu belehren, und nur in seltenen, dringenden Fällen Geschenke zu gewähren.

Alles dies beruht auf einer sinnigen Thätigkeit gebildeter Einzelner, möglichst vieler Einzelner, die aber nicht vereinzelt, sondern wohlgegliedert auftreten, die unbeengt handeln müssen, doch nicht ohne Fühlung und Leitung von einem Mittelpunkte aus. Zwar kann schon ein Einziger, der sich mit Begeisterung und Umsicht dem Guerillakriege gegen Noth und Elend hingiebt, segensreich wirken; er hat Aussicht, eine Art Gleichgesinnter und Gleichstrebender anzulocken, nachhaltige größere Erfolge sind aber erst von einer umfassenden Organisation zu erwarten, an deren Spitze ein Mann steht, welcher die Einzelkräfte heranzubilden und planvoll zu verwerthen weiß.

Erst in der letzten Generation haben sich die Ansichten über das, was in diesem Bereiche zu thun und zu lassen ist, festgestellt, nachdem der höher und höher emporwuchernde Pauperismus aller Bemühungen, ihn zu bändigen, spottete. Die Stadt Elberfeld hat sich den Ruhm erworben, das Sphinxräthsel gelöst zu haben, sodaß zur Zeit das Elberfelder System bereits in einer Anzahl anderer Städte, wie Barmen, Crefeld, Düsseldorf, Karlsruhe, Darmstadt, Bremen, zum Theil und modificirt in London eingeführt ist und gute Aussicht hat, früher oder später in allen Orten mit ähnlichen Verhältnissen nachgeahmt zu werden. An vielen werden bereits Vorbereitungen getroffen. Häufig jedoch vernimmt man Klagen, daß der Sinn der Bürgerschaft dafür noch nicht hinlänglich geweckt sei und daß darum sich zu wenig zahlende und noch weniger werkthätige Mitglieder bereit finden lassen. Anderseits nimmt man, in der Befürchtung, auf Widerwillen zu stoßen, Anstand, den Pflegedienst obligatorisch zu machen, wie letzteres in Elberfeld mit so gutem Erfolge geschehen ist.

Deshalb sei in der „Gartenlaube“ diese sociale Lebensfrage angelegentlich befürwortet. Dabei darf die Ueberzeugung ausgesprochen werden, daß Alle, die sich dem edlen Werke emsig und treu widmen, nicht blos das Bewußtsein einer guten That davontragen werden, sondern auch einen positiven, werthvollen Gewinn für ihr eigenes Lebensglück: – im Lehren werden sie selbst lernen, umsichtig, findig, ausdauernd, anspruchslos, praktisch zu sein.

Die Städtische Armenverwaltung von Elberfeld ist aus einem Vorsitzenden, vier Stadtverordneten und vier auf drei Jahre gewählten Bürgen gebildet. Die Behörde hat für alle Hülfsbedürftigen zu sorgen, welchen gesetzlicher Anspruch darauf zusteht. Unterstützt wird sie 1) in Bezug auf die öffentliche Armenpflege (das heißt auf die nicht in Armenanstalten Aufgenommenen) durch 18 Bezirksvorsteher und 252 Armenpfleger; 2) in Bezug auf die geschlossenen Armenanstalten durch die jeder solchen vorgesetzte Deputation. Wie und wann der Pfleger ohne Rückfrage unterstützen darf, ist genau bestimmt. Das Elberfelder System hält den Grundsatz fest, daß kein Pfleger mehr als vier „Positionen“ (Einzelne und Familien) übernehmen soll, womöglich aber nur drei, welche er zu überwachen, mindestens alle vierzehn Tage persönlich zu besuchen und über die er zu berichten hat. Jeder stimmfähige Bürger ist zur Uebernahme dieses unbesoldeten Ehrenamtes verpflichtet. Die Einrichtung bewährt ihre Trefflichkeit, trotz schwerer Prüfungen, seit fünfundzwanzig Jahren nach allen Seiten hin und beschämt jene Kleingläubigen, welche, als dieselbe noch bloßer Entwurf war, nur schöne Träume darin sehen wollten. Der Straßen- und Hausbettel hat in Elberfeld nahezu ganz aufgehört, und doch ist der Aufwand für Außenarme (nicht in öffentlichen Anstalten Verpflegte) ansehnlich verringert, obwohl die Einwohnerzahl von 50,000 auf 83,600 im Jahre 1876 gestiegen ist. 1846 bis 1852 fiel auf den Kopf der Bevölkerung durchschnittlich 2,80 Mark, 1853 bis 1876 nur 1,35 Mark.

Von den Obliegenheiten des ganzen Getriebes und seiner Theile steht obenan: den Ursachen der Verarmung nachzuforschen und, wenn möglich, für Abhülfe zu sorgen; ferner strenge Untersuchung jedes Falles, ob die Stadt, oder ein anderer Verband, oder Private zur Unterstützung verpflichtet sind, und Heranziehung der Verpflichteten. Nebenher fehlt es nicht an Winken, wie Fälle von verschuldeter Armuth, Arbeitsscheu etc. zu behandeln sind, wie auf ehrbaren Wandel, Ordnung, entsprechende Kinderhaltung, sowie auf Bewahrung der Familienbande hinzuwirken ist.

Das Elberfelder System hat es nur mit männlichen Armenpflegern zu thun. Aber auch Damen, gebildeten kinderlosen Frauen und Wittwen, sowie Unverheiratheten, mag die werktätige Armenpflege an’s Herz gelegt sein, da das weibliche Gemüth so reich ist an Eigenschaften, welche sich hier hoch verwerthen. Ein glänzendes Beispiel davon ist unter Anderem in London gegeben worden; wir verweisen auf das Schriftchen von Octavia Hill „Aus der Londoner Armenpflege“ (im Auftrage der kürzlich dahingeschiedenen Großherzogin Alice von Hessen in’s Deutsche übersetzt: Wiesbaden, 1878, Mark 1,16), wenn auch immerhin nicht alles in London Geschehene diesseits ausführbar scheint.

Im Vorwort sagt die edle Frau: daß wir „Freunde der Armen werden müssen, um ihnen Wohlthäter sein zu können. Nicht durch Almosen sollen wir ihre Liebe zu erkaufen suchen, sondern durch Aufschließung ihrer sittlichen Hülfsquellen. Wir selbst haben beigetragen durch planloses Spenden ihre Selbstachtung zu untergraben, anstatt sie für diese zu erziehen“. Diese Rathschläge dürfen aber die Pfleger nicht etwa verleiten, Liebe und Güte bis zur Schwachheit zu treiben. Die echte Freundschaft hält fest an dem, was sie als recht und gut erkannt hat, und scheut sich nicht, im Nothfall vor ihren Pflegebefohlenen herb zu erscheinen. Mancher warmblütige, aber kurzsichtige Menschenfreund wird zu Mahnungen der Art den Kopf schütteln, vielleicht philiströse Kleinlichkeit, doctrinäre Engherzigkeit darin sehen. Derlei ist hinzunehmen, ohne sich irre machen oder verbittern zu lassen. So ist z. B. auf pünktliche Erfüllung übernommener Verpflichtungen stets zu dringen und dem alle Verhältnisse der ärmeren Classen zerrüttenden Borg- und Schuldenwesen kräftig entgegenzuwirken. Unter die Hauptsorgen jedes erzieherischen Verkehrs mit Armen gehört sodann, ihnen unermüdlich Anleitung zu geben zur zweckmäßigen Eintheilung und Verwendung ihrer kargen Einnahmen, namentlich sie vor jener bei den Aermsten so sehr häufigen falschen, verschwenderischen Sparsamkeit zu warnen, welche, um Groschen zu sparen für Speisen, Kleidung, Arbeits- und Hausgeräth etc., Zeit, Gesundheit und Körperkraft verwüstet. Die Anleitung muß aber so angebracht sein, daß die Pfleglinge sich nicht wie unmündige Kinder fühlen. Obwohl sie thatsächlich nur zu oft nichts Anderes sind, so ist doch ihr Selbstgefühl so weit wie irgend möglich zu schonen und zu stärken. Alle, besonders das weibliche Geschlecht, sind zur Sauberkeit und Ordnung anzuhalten, der Werth guter Athemluft und ausreichenden Wohnungsraums ist ihnen zum Bewußtsein zu bringen, ihre üblen Gewohnheiten, ihre Hoffnungslosigkeit und Bitterkeit, ihre Trägheit, ihr Stumpfsinn sind tactvoll und geduldig zu bekämpfen.

Gewiß, alles das sind leicht auf’s Papier hingeschriebene, aber recht schwer auszuführende Dinge, wir lernen aber sie vollbringen, sobald wir uns ihnen ernstlich widmen, lernen endlich, mit den nie ganz ausbleibenden Erfolgen über fehlgeschlagene, verkannte, übel vergoltene Mühe uns trösten und wahre Freude an dieser Thätigkeit empfinden.

Wie in der Körperwelt die Wärme in Bewegung umgewandelt werden kann – ein Naturgesetz, auf dem das moderne Maschinenwesen beruht – so wäre auch zu wünschen, daß jene schöne Gefühlswärme, die zu raschem und reichlichem Geben antreibt, sich in Thätigkeit umwandelte, welche die Kraft des Schwachen in Bewegung setzt, ihn antreibt, nicht Hülfe von außen zu erwarten, sondern sich selbst emporzuringen. Dank der Gutherzigkeit und Opferbereitschaft, an der es nirgend in unserem Lande gebricht, sind eine große Anzahl Unterstützungs- und Hülfsvereine verschiedenster Art redlich, zum Theil in rührender Weise, bemüht, Noth und Elend zu lindern, Strauchelnde zu stützen, Gefallene aufzurichten. Das würde jedoch unzweifelhaft weit besser gelingen, wenn nicht oft zu eilfertig oder zu spät, oder ungenügend, oder, was das Schlimmste, übermäßig und am falschen Orte gespendet würde. Stets muß der Grundsatz festgehalten werden, nur nothwendige Unterstützung zu gewähren, weil sonst der Andrang unlustiger Arbeitsfähiger gar nicht mehr abzuwehren ist, immer neue Bettlerschaaren förmlich gezüchtet werden, endlich das Uebermaß der Gabe entsittlichend auf die Beschenkten wirkt.

Nicht selten fehlt es auch innerhalb der Vereine an richtiger Arbeitstheilung und Abgrenzung der Befugnisse, an ebenmäßiger Gliederung und förderlichem Ineinandergreifen; Theile der Maschinerie reiben und stören einander. Endlich mangelt es an Fühlung mit anderen ähnlich strebenden Verbindungen und mit

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