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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Folgenden geben wollen. Wir stützen uns dabei vorzugsweise auf die treffliche Schrift von Julius Vuylsteke: „Willems en het Willemsfonds“.

In seinem zwölften Lebensjahre siedelte Willems von Bouchout, wo er als das älteste von vierzehn Kindern eines Beamten geboren war, nach Lier über, einer Stadt bei Antwerpen, deren alterthümliche Prachtgebäude an die Zeit erinnern, wo Philipp der Schöne hier sein glänzendes Beilager hielt und der entthronte Christian (der Zweite) von Dänemark hier ein gastliches Asyl fand. Trotz aller Verwälschung hatte sich in dem Städtchen ein Stück nationalen Lebens erhalten. Nicht nur die Anregung zu frühzeitigem poetischem Schaffen und die Begeisterung für germanische Art und Kunst, sondern auch den Geist der Freiheit in religiöser und politischer Hinsicht sog Willems im Schooß der Rederijkkammer ein. Schon in seinem vierzehnten Lebensjahre schrieb er eine schneidige Satire gegen den Bürgermeister seines Geburtsortes Bouchout, dem sein Vater den Verlust seines Postens als percepteur des contributions zu verdanken hatte. Seit 1808 in dem Bureau eines Notars als Schreiber thätig, blieb er seinen literarischen Studien doch treu, und so fand ihn das Jahr 1814 in einem Alter von einundzwanzig Jahren mit Allem ausgerüstet, was erforderlich war für die Aufgabe, welche ihm bei der neuen Ordnung der Dinge zufallen sollte.

Diese Aufgabe war mühselig genug. Die Vlamingen, welche mit Willems die Schöpfung des Wiener Congresses, das Königreich der vereinigten Niederlande als eine Wiedergeburt des niederländischen Volkes zu selbstständigem nationalem Leben begrüßten, waren zu zählen. Und doch war diese Vereinigung der nur kirchlich, nicht national getrennten Stämme schon im sechszehnten Jahrhundert das Ideal der Vorfahren gewesen. Die Wiedereinführung der niederländischen Sprache in alle Verwaltungszweige und völlige religiöse Duldsamkeit waren die unerläßlichen Erfordernisse für das Bestehen des neuen Staates, aber weder das Eine, noch das Andere fand viel Anhänger.

Die katholische Partei erhob sich zuerst, und es war gewiß ein schlimmes Zeichen, daß unmittelbar nach der Schlacht bei Waterloo die Notabeln mit einem Protest gegen das neue Staatsgrundgesetz hervortraten, weil darin Gewissens- und Preßfreiheit, sowie gleiche Berechtigung aller Bekenntnisse in Bezug auf Anstellung im Staatsdienste gewährleistet war. Wenn die Großen in solcher Zeit sich von der Geistlichkeit zu solchem Auftreten verleiten ließen, was war da von den Massen zu erwarten!

Ein wahrer Chorus von Schmähreden erhob sich in Zeitungen und Flugschriften gegen die „holländische Ketzersprache“. Niemand als Willems hatte den Muth, diese vaterlandslosen Elemente zu bekämpfen. Schon 1812 hatte er durch eine preisgekrönte Dichtung über die Schlacht bei Friedland die Augen seiner Landsleute auf sich gezogen; bald darauf erschien sein Drama „Quinten Matsys“. Jetzt aber hieß es, die Feder zum Kampfe zu brauchen, und während er in seiner „Niederdeutschen Sprach- und Literaturkunde“, durch welche er seinen Ruf als Sprach- und Geschichtsforscher begründete, die falsche und unpatriotische Ansicht der Tarte, Barafin, Plaschaert, Donny und anderer Fransquillons, daß das Niederdeutsche nicht die Muttersprache der Belgier des Flachlandes sei, auf das Gründlichste widerlegte, suchte sein poetischer Appell „An die Belgier“ das geschwundene Nationalgefühl seiner Landsleute zu wecken. In Vers und Prosa wies er nachdrücklich darauf hin, welch einen bedeutenden Antheil die Vlamingen von jeher an dem Geistesleben der gesammten Niederdeutschen, namentlich an der Literatur derselben, genommen hätten.

Sein Literaturgeschichtswerk zog ihm die Feindschaft eines fanatischen Priesters Namens Buelens zu. In einem offenen Briefe ward Willems, obgleich er sich stets gut katholisch und kirchlich gezeigt hatte, auf das Heftigste als Feind der Kirche verschrieen, der „das freie Denken und die freie Presse als eine unentbehrliche Vorbedingung nationaler Entwickelung hingestellt und die gottlose naturwissenschaftliche Forschung verherrlicht, die Priester als Unterdrücker der bürgerlichen und Gewissensfreiheit gebrandmarkt habe“ etc.. Allerdings hat Willems als ehrlicher Geschichtsforscher und warmherziger Patriot nicht umhin gekonnt, den Aufstand der Niederländer im sechszehnten Jahrhundert einen Kampf für die gute Sache zu nennen, und es hatte ihm als Sprachforscher nicht entgehen können, daß die niederdeutsche Sprache das vornehmste Werkzeug der Anhänger der neuen Lehre Luther’s gewesen sei. Er hatte der Geistlichkeit den Vorwurf nicht zu ersparen vermocht, daß sie von jeher lieber die heiligsten Rechte der Nation, als ihre Machtansprüche und Herrschergelüste aufzugeben geneigt war, und daß der Verfall der niederländischen Literatur im sechszehnten Jahrhundert ihr eigenstes Werk sei. In der heftigen literarischen Fehde, welche sich in der Folge zwischen Buelens und Willems entspann, war der Erstere unvorsichtig oder verblendet genug, seiner Begeisterung für Philipp den Zweiten und seinen Henker Alba, sowie für inquisitorischen Geistes- und Gewissenszwang ganz offen Ausdruck zu geben, was ihm eine mit beißender Satire gewürzte Abfertigung seitens des Dichters zuzog.

Selbst David, der begeisterte Dichter, der so viel für die Hebung der vlamischen Literatur gethan hat, war trotz seiner Liebe zur Muttersprache, die er so meisterhaft handhabt, für die vlamische Bewegung nicht zu gewinnen. War er doch katholischer Priester, und erstrebte doch die Bewegung vor Allem Freiheit des Wortes und der Gedanken, eine Frucht, die nun einmal auf dem römisch-katholischen Boden nicht wachsen will.

Und nicht blos gegen die Jesuiten und ihre Anhänger, auch gegen die „Verfranschten“, die sich um 1829 wieder ungemein rührig zeigten, mit den eingewanderten französischen Journalisten um die Wette die vlamische Muttersprache zu schmähen und in Mißcredit zu bringen, richtete Willems die scharfen Waffen seiner Gelehrsamkeit und seines Spottes. Gleich gewandt in beiden Sprachen, schrieb er gegen die einen vlamisch, gegen die anderen französisch. Aber er blieb bei dieser negativen Thätigteit nicht stehen. Eine gründliche Volkserziehung im nationalen Sinne, eine Verbindung der Gegenwart mit der Vergangenheit, des Südens mit dem Norden war sein nächstes, mit aller Kraft und Hingebung verfolgtes Ziel. Nach allen Seiten streute er den Samen gründlichster Belehrung über Sprache und Kunst, Abstammung und Geschichte seiner Landsleute aus.

Wie die spätere belgische, so verfehlte kurz vor der Revolution die holländische Regierung vielfach des rechten Weges. Gerade damals, als Willems so mannhaft gegen Clericale und Franzosen auftrat, machte die Regierung diesen ganz unerhörte Zugeständnisse, was unserm Volksmann den bitteren Ausruf entlockte: „Französische Sprache und französische Jesuiten, die müssen wir haben, die einen für unsere Presse, die anderen für unser Unterrichtswesen, und dann ist es sicher, daß wir aufrichtige Niederländer sein werden.“

Es kam eine Einigung der beiden Hofparteien zu Stande, deren eine auf den Schultern der Encyklopädisten stand, während die andere von Jesuiten gelenkt wurde. Die erstere hatte sich so völlig von der zweiten überlisten lassen, daß die Massen, welche halb oder gar nicht begriffen, um was es sich handele, vom Adel irre geführt, auf das Eifrigste für jene „Freiheit“ petitionirten, welche dann später die Jesuiten in so verderblicher Weise ausgebeutet haben, namentlich auf dem Gebiete des Unterrichtswesens. Die Universität Löwen, diese Zwingburg des freien Gedankens, diese Pflanzschule fanatischer Stockschläger, ist eine Frucht jener Unterrichtsfreiheit. Die Regierung gab also dem Drängen der vereinigten Clerico-Liberalen nach: ein Erlaß vom 27. Mai 1830 stellte die 1825 abgeschafften geistlichen Collegien wieder her; ein anderes vom 4. Juni ließ den Gebrauch der französischen Sprache im Rechtsverfahren wieder zu.

Willems war nahe daran zu verzweifeln. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Die von den „Clerico-Liberalen“ angezettelte unselige Revolution vom September 1830 riß die Vlamingen und Holländer wohl für immer aus einander. Für die ersteren hatte sie vielleicht noch schlimmere Folgen, als für die „besiegten Unterdrücker“, wie die triumphirenden Jesuiten und Fransquillons die Holländer frohlockend nannten. Alle ihre geistigen Güter standen auf dem Spiele; der vlamische Unterricht wurde verwahrlost; alle Examina wurden in französischer Sprache abgehalten, und dadurch wurde den Vlamingen der Weg zum Staatsdienst wesentlich erschwert, wo nicht gänzlich abgeschnitten.

Aber auch in nationalökonomischer Hinsicht hatten sich die Vlamingen verschlechtert, wie Willems in seiner berühmten Fabel von den Ratten (Vlamingen) andeutet, welche aus der Käsekammer (Holland) auswandern, um sich im Kohlenkeller (Belgien) anzusiedeln. Es hat namentlich in der neuesten Zeit nicht an Stimmen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_375.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)