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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Die Votivkirche in Wien.


Es war am 18. Februar 1853. Kaiser Franz Joseph machte in Begleitung des Grafen O’Donnell seinen gewohnten Spaziergang über die nun längst verschwundene Bastei, und als er in der Nähe des alten Kärnthnerthores sich über die Brustwehr lehnte, stieß ihm ein verrückter Schneidergeselle aus Ungarn die Spitze eines Küchenmessers in den Nacken. Glücklicherweise war die Verletzung nur leicht, und der junge Kaiser kehrte, die angesammelte Volksmenge selbst beruhigend, zu Fuß in die Hofburg zurück.

Zur Erinnerung an dieses Ereigniß wurde die Votivkirche gestiftet, deren feierliche Einweihung vor kurzem, anläßlich der silbernen Hochzeit des österreichischen Kaiserpaares, erfolgte.

Der Gedanke, sie zu erbauen, stammte von dem unglücklichen Erzherzog Max, der später in Mexico ein trauriges Ende fand; den Bau selbst hat der vortreffliche Architekt Heinrich von Ferstel begonnen und vollendet; der Plan desselben wurde von dem alten König Ludwig von Baiern geprüft und gutgeheißen.

Um den Platz, wo die Votivkirche errichtet werden sollte, herrschte anfangs ein lebhafter Streit; schließlich siegte über alle Sonderwünsche die bessere Einsicht, und kaum irgendwo in der ganzen großen Stadt Wien hätte ein schönerer Raum ausfindig gemacht werden können, als derjenige, welchen die Votivkirche schmückt. Rings umher im weiten Halbkreise laufen die Häuser zweier Vorstädte, der Josephstadt und der Roßau, zusammen; gewaltige Gebäude, das Schwarzspanierhaus, das Landesgericht, das Palais des Generalstabes, die Universität und das provisorische Abgeordnetenhaus, wenden der Kirche ihre Stirnseiten zu. Vorn zieht sich der imposante Bogen der Ringstraße hin, in die sich, gerade gegenüber der Kirche, das Leben der inneren Stadt durch das Schottenviertel ergießt. Auf die Hast der Menge, welche hier nach fünf Seiten aus einander und zusammen stiebt, blicken die beiden schlanken Thürme des anmuthigen Kirchenbaues wie Zeichen der Ewigkeit nieder.

In fünfundzwanzig Jahren ist die Arbeit vollendet worden. Wie stürmisch wälzte sich inzwischen der Strom der Ereignisse dahin! Erzherzog Max, der ein Dichter war, hat am 27. Februar 1853 den Aufruf erlassen, in welchem er die Völker Oesterreichs zur Beisteuer für die Votivkirche einlud. Am 24. April 1856 fand die feierliche Grundsteinlegung statt; um den Monarchen war der gesammte Episcopat des Reiches versammelt, und Erzbischof Rauscher pries in seiner Weiherede das Concordat als „ein Werk des Friedens und der Erneuerung im Bereiche der Geisterwelt“, bezeichnete die Bischöfe als „die Vertreter der heiligsten, Zeit und Ewigkeit verknüpfenden Interessen der Völker Oesterreichs“. Drei Jahre später ward im blutigen Kriege die Lombardei, zehn Jahre später Venetien und die Stellung in Deutschland verloren. Erzherzog Max folgte gefährlicher Verlockung, griff nach der Kaiserkrone über den Ocean hinüber und endete am 19. Juni 1867 auf dem Cerro de las Campanas bei Queretaro, von feindlichen Kugeln durchbohrt, sein Leben. Endlich am 24. April 1879 wurde der vollendete Bau eingeweiht, aber an die Stelle des Concordats war unterdessen die Verfassung als „ein Werk der Erneuerung im Bereiche der Geisterwelt“ getreten und nicht mehr die Bischöfe, sondern die Erwählten des Volkes verknüpfen die Interessen Oesterreichs.

So viel des Denkwürdigen vollzog sich, während die Votivkirche langsam in die Höhe wuchs. Will man in den Namen von Menschen und Ereignissen diese katastrophenreiche Epoche zusammenfassen, so genügt es, zu sagen, daß der Weg über Magenta, Solferino, Lissa, Custozza und Königsgrätz führte, daß Bach und Thun, Schmerling und Belcredi, Herbst, Hohenwart und Auersperg sich an dem Reiche versündigten, um das Reich verdient machten in dem Zeitraume zwischen der Stiftung und der Vollendung der Votivkirche.

Es ist oft behauptet worden, der Gegenwart sei die schöpferische Anlage versagt, sie habe sich keine eigene Dichtungsform, keinen eigenen Kunststil, kein eigenes philosophisches System geschaffen, sie zehre vom Vergangenen, begnüge sich mit dem passiven Genießen des Epigonenthums, sei unselbstständig und principlos im Geschmack, wohne in Miethscasernen und ersticke am Erwerb. Die Selbstironie ist eines der wesentlichen Merkmale unserer geistigen Physiognomie, und leider fehlt es dieser Selbstironie in künstlerischem und literarischem Betracht nicht an Grund. Wir sind in der Kunst wirklich mehr empfänglich als schöpferisch. Aber man soll das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Gerade innerhalb der Zeitspanne, welche zwischen Beginn und Vollendung der Votivkirche verfloß, haben wir zum mindesten auf dem Gebiete der Staatsentwickelung es an schöpferischem Wirken nicht ermangeln lassen. Die ästhetische Productivität ward von der politischen abgelöst. Italien und Deutschland wurden geeint, mittelalterliche Ueberreste beseitigt und durch moderne Bildungen ersetzt. Andere Zeiten, andere Lieder! Wir reimen und bauen nach alten Mustern, aber wir leben in neuen Formen, die wir uns selbst erschaffen haben. So ganz verdient ist also der Vorwurf des Epigonenthums nicht, wenn auch zugestanden werden soll, daß wir von den Baustilen vergangener Jahrhunderte, von dem byzantinischen, gothischen, von der Renaissance und dem Rococo borgen müssen, wenn wir unsere Kirchen und Paläste, dagegen von den Mauren, wenn wir unsere Synagogen bauen wollen, ja daß unsere Dichtung noch nicht über die Impulse hinausgekommen ist, welche sie vor bald hundert Jahren von den Dichterfürsten in Weimar empfing.

Immerhin mag uns die Wiener Votivkirche ein wenig beruhigen. Sie ist nicht originell, weder im Plane noch in der Durchführung, aber sie zeigt, wie man gewaltige Muster durch getreues Nachempfinden erreichen kann, und wenn der Stephansdom, von den ehrwürdigen Schauern der Jahrhunderte umweht, den unnahbaren Ernst der Gothik repräsentirt, so vertritt die Votivkirche, das Kind unserer Tage, die Anmuth und Feinheit, die emporstrebende Grazie der Gothik, und der Wiener Volksmund hat so unrecht nicht, wenn er meint, sie sei „wie aus Zuckerwerk und Marcipan“. Mächtiger, ehrfurchtgebietender, ergreifender ist der Stephansdom mit dem in die Wolken ragenden Thurme, von dem auf viele Meilen in der Runde der Blick über die Landschaft schweift, aber zierlicher, reizvoller, einschmeichelnder ist die zweithürmige Votivkirche, officiell Heilandskirche genannt – und kein Fremder geht an ihr vorüber, ohne ihr Bild neben demjenigen des Stephansdomes sich in seine Erinnerung einzuprägen als ein Symbol des heiteren, gefälligen, vertraulichen Wesens der Stadtbevölkerung, welche sie umwohnt.

Zum Stephansdome bildet demnach die Votivkirche einen Gegensatz. Heinrich von Ferstel folgte, um mit Dr. Moritz Thausing, dem Biographen der Votivkirche, zu sprechen, dem französischen System der Gothik, wie es sich in der eigentlichen Heimath des gothischen Stils an den Kathedralen der Isle de France, der Champagne und Picardie ausgebildet hat und dann nur in vereinzelten Beispielen, namentlich im Kölner Dome, auch nach Deutschland herübergenommen wurde. Die Stephanskirche ist das unvergleichliche Muster der deutsch-gothischen Hallenkirchen. Doch denke man nicht, daß Ferstel die großen Bauprincipien des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts einfach sich angeeignet und sclavisch nachgeahmt habe; es gelang ihm, in der Behandlung der Einzelheiten originell zu sein, und das Ebenmaß der Verhältnisse, die übersichtliche Klarheit der Anordnung, die regelrechte Durchbildung der Theile und die Harmonie des Ganzen sind sein eigenes Werk und Verdienst.

Man tritt in diese verschieden abgeschlossenen und beleuchteten Hallen und hat sie sofort mit einem einzigen Blicke gefaßt. Die Fülle der Durchblicke wirkt nicht störend oder beunruhigend, sondern lösend und befriedigend. Kaum irgend ein anderer gothischer Kirchenbau diesseits der Vogesen zeigt überdies die horizontale Gliederung in so übersichtlicher Weise durchgeführt, wie die Votivkirche. Die alten deutsch-gothischen Bauformen kennzeichnen sich durch die verticale Tendenz, welche ihnen eine eigenthümliche Unruhe verleiht. Ferstel vermied diese Tendenz zu Gunsten der Gesammtwirkung, und man kann nur sagen, daß dies ein überaus glücklicher Gedanke war. Auch die üppige Entfaltung unmotivirten Zierrathes, wie sie der Spätgothik anhaftet, hat der Künstler sich mit Recht versagt. Für Pfeiler, Maßwerk, Giebel, Fialen und Gesimse sind nur wenige und sehr einfache Grundformen gewählt, nirgends drängt sich ein absichtlicher Wechsel ohne constructiven Grund störend in die Betrachtung. Nur im

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