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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Lebensfrische Thier- und Pflanzenleichen.
Ein neues Förderungsmittel für das ärztliche, zoologische und botanische Studium.


Eine der größten Schwierigkeiten für das naturhistorische Studium im Allgemeinen und das ärztliche im Besonderen hat bekanntlich stets in der Herbeischaffung möglichst lebensvoller pflanzlicher, thierischer und menschlicher Körper, sowie geeigneter Präparate von einzelnen Theilen derselben bestanden.

Georg Ebers hat uns in seinem ägyptischen Romane „Uarda“ mit lebhaften Farben die Vorurtheile geschildert, die selbst in einem Lande, in dem man die Leichen regelmäßig öffnete und secirte, der Wißbegierde des Arztes entgegen standen. Auch im alten Griechenland und Rom hatte man zum großen Schaden der ärztlichen Bildung die religiöse Scheu vor dem Zerstückeln des Meisterwerkes der Natur noch nicht überwunden, und die auffallenden anatomischen Kenntnisse, deren sich der römische Arzt Galenus erfreute, waren größtentheils durch die Zergliederung von Hunde- und Affenkörpern erworben worden, wie dies der Vater der anatomischen Wissenschaft vom Menschen, Vesalius, auf das Unzweifelhafteste dargethan hat. Als im Beginne des vierzehnten Jahrhunderts Professor Mondini in Bologna zuerst den Versuch wagte, menschliche Leichen zu Studienzwecken zu zerlegen, bedrohte der Papst Bonifacius der Achte Alle, die diesen Frevel nachahmen würden, mit dem Kirchenbann. Eifrige Jünger der Wissenschaft, die derartige beschränkte Gesichtspunkte verachteten, mußten gleichwohl die Stille und Verschwiegenen der Nacht und verborgener Werkstätten benutzen, um ganz im Geheimen an gestohlenen Friedhofs- oder Galgen-Candidaten die ihnen so wünschenswerthen und der Allgemeinheit so nützlichen Kenntnisse erweitern zu können, und noch Vesalius litt unter allerlei aus seinen Studien hergeleiteten Verdächtigungen und Anklagen.

Ueber dieses der Wissenschaft so hinderliche Vorurtheil ist man zum Wohle der Menschheit allmählich glücklich hinweg gekommen, aber die Schwierigkeiten, welche namentlich der Beschaffung geeigneter Vorlagen für den unentbehrlichen anatomischen Anschauungsunterricht entgegenstehen, sind nichtsdestoweniger bis auf den heutigen Tag größer geblieben, als man wünschen muß. Die schönsten Papiermaché-, Glas- und Wachspräparate reichen nicht aus; die ausgetrockneten oder in Spiritus aufbewahrten Naturpräparate sind nach Form und Färbung gleichmäßig unzulänglich; auch muß der Arzt vor Allem selber seciren und präpariren lernen.

In großen Universitätsstädten fehlt es nun zwar nicht an frischen Objecten für den Anatomiesaal, aber die schnelle Verwesung, die Unmöglichkeit, sofort jede Gelegenheit auszunützen, erforderte bisher eine Abhärtung der Sinnesorgane und eine Charakterfestigkeit, welche oft gerade die am besten vorgebildeten und geeignetsten Candidaten der Medicin nicht zu erwerben vermochten. Gar mancher gefühlvolle junge Mann, der gewiß eine Zierde des ärztlichen Standes geworden wäre, ist dadurch vom anatomischen Studium abgeschreckt worden, so z. B. der berühmte Naturforscher Charles Darwin. Noch schlimmer liegen diese Verhältnisse in den kleinen Universitätsstädten, wo man sich oft wochenlang mit demselben Lehrobject behelfen und wohl selbst für diesen vorübergehenden Gebrauch zu schlimmen Giften seine Zuflucht nehmen muß, um die Verwesung aufzuhalten.

Der königliche Präparator an der Berliner Universität, Wickersheimer, hat nun in neuerer Zeit eine Entdeckung gemacht, die nach dieser, wie nach manchen anderen Richtungen gründliche Abhülfe zu schaffen verspricht. Derselbe hat nämlich nach längeren Versuchen eine Flüssigkeit entdeckt, die dem Thier- und Pflanzenleib, den man einige Zeit in dieselbe hineinlegt, oder dem man sie in die Adern spritzt, nicht nur Unverwesbarkeit verleiht, sondern auch nach dem Herausnehmen und Abtrocknen seine natürliche Farbe, Weichheit und Biegsamkeit aller Gelenke sichert.

In dem Laboratorium des Herrn Wickersheimer sah der Unterzeichnete den Körper eines vor mehreren Monaten verstorbenen Knaben, der, frei an der Luft liegend, vollkommen das Ansehen eines schlafenden Kindes bewahrt hatte; der Körper war nicht leichenfarbig und starr, sondern lebensfarben und von natürlicher Weichheit, sodaß der Schein des Lebens in erstaunlicher Weise bewahrt erschien.

Ich habe mancherlei derartige Präparate gesehen, von den ägyptischen Mumien bis zu den versteinerten Leichen des Professor Brunetti aus Padua, aber sie halten auch nicht den entferntesten Vergleich mit dem hier Erreichten aus. Die vielbewunderten ägyptische Einbalsamirungskünste sind daneben kaum zu erwähnen, denn mit aller Mühe und Arbeit wurde dadurch nur ein starrer Klumpen geschaffen, während hier eine einzige Ausspritzung genügt, um den Körper vor dem Zerfall zu bewahren. Ohne Zweifel würden sich durch beschleunigte Austrocknung so präparirter Körper treffliche Mumien herstellen lassen, wenn damit einem wirklichen Bedürfniß genügt werden könnte, aber unsere Zeit sieht mit Recht in der möglichst schnellen Zerstörung des Körpers der Todten das Heil der Lebenden. „Die Mumie,“ so schrieb der bekannte deutsche Reisende Ulrich Jasper Seetzen[WS 1] vor siebenzig Jahren, „sind immer unangenehm. Will man die Reste der uns Theuren einigermaßen unter einer angenehmen Form aufbewahren, so verbrenne man sie in einem Ofen und bilde aus ihrer Asche eine Glaspaste mit ihrem Bilde, eine Vase, Büste oder dergleichen.“ Dies im Vorübergehen.

Dagegen kann das Wickersheimer’sche Verfahren sehr zweckmäßig dazu dienen, Personen, die durch eigene Anordnung oder den Wunsch ihrer Angehörigen dazu bestimmt sind, nach ihrem Ableben weite Reisen zu machen, dazu vorzubereiten, und wie ich höre, ist dies bereits mit einem Brasilianer, der in seiner heimathlichen Erde zu ruhen wünschte, geschehen. Die nächst wichtige Errungenschaft aber dürfte sein, daß man nach dem neuen Verfahren im Stande ist, thierische und menschliche Körper für Studienzwecke monatelang geruchlos und in einem Zustande zu erhalten, den man versucht ist, lebensfrisch zu nennen. Natürlich wird man nicht verabsäumen, lehrreiche Abnormitäten und krankhafte Bildungen auf demselben Wege auch für die Sammlungen zu präpariren.

Für die Museen wird, so scheint es, eine neue Epoche beginnen. Welch ein Abstand zwischen der alten Ibismumie der Katakomben und einer jüngst präparirten Fledermaus, die mir der Erfinder zeigte! Ihre Ohren und ihre Flughäute fühlen sich an wie weiche Gummi-Membrane; die Flügel lassen sich ausbreiten und zusammenlegen und alle Bewegungen wie am lebenden Thiere studiren. Krabben und andere Kruster, sowie Insecten aller Art, die vor dem Austrocknen in die besagte Flüssigkeit gelegt worden waren, hatten gleichfalls sowohl ihre natürlichen Farben wie die volle Beweglichkeit aller ihrer Gliedmaßen bewahrt, und ein Museum solcher Präparate verspricht ganz andere Studienergebnisse, als die bisherigen starren, zerbrechlichen Bewohner der Museen. Ein so präparirter Tausendfuß kann noch im Tode „hundert Gelenke zugleich“ regen; eine todte Heuschrecke kann ihr Liebeslied vortragen, und die Käfer, deren Flügeldecken sich heben lassen und deren Fühler und Kiefer nicht gleich bei jeder Berührung abbrechen, dürften vollends das Entzücken jedes Insectenkundigen erregen.

Wie aus dem eben Gesagten hervorgeht, besitzt die Präparirflüssigkeit die Eigenschaft, den Sehnen und Bändern, welche die Knochen oder Panzertheile an den Gelenken verbinden, bleibende Elasticität und Weichheit mitzutheilen. Damit ist nun auch die Möglichkeit gegeben, ohne Drahtverbindungen und künstliche Gelenke bewegliche Skelete herzustellen, an denen sich die Theilnahme und Wirkungsweise der einzelnen Knochen bei den zusammengesetzten Körperbewegungen, also die Mechanik unserer natürlichen Arbeitswerkzeuge, auf das Klarste studiren lassen. Mit ganz anderer Ueberzeugungskraft, als an dem Drahtskelet, sieht man hier, wie das Gerüste des Körpers kunstreich aus Hebeln und Rollen aufgebaut ist, wie die künstlichsten Bewegungen sich aus vielen Einzelbewegungen zusammensetzen, und wie die einzelnen Knochen daran ungleichen Antheil nehmen, sodaß sich z. B. bei der Drehung der Hand nur einer der beiden den Vorderarm bildenden Knochen, die sogenannte Speiche, im Kreise bewegt etc.. Ebenso leicht lassen sich hierbei die combinirten Bewegungen des Brustkorbes beim Athmen, die des Kehlkopfes und anderer Theile zeigen. Die freie Gelenkigkeit aller mit einander verbundenen Knochen dieser wirklich bewunderungswürdigen Präparate zeigt sich besonders deutlich an den von Herrn Wickersheimer hergestellten

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ulrich Jaspar Seetzen
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 366. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_366.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)