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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Zur Geschichte der Socialdemokratie.
Von Franz Mehring.

2. Ferdinand Lassalle und der allgemeine deutsche Arbeiterverein.[1]

In der einleitenden Skizze dieser Darstellung ergab sich, daß der moderne Socialismus, an sich ein zwiespältiges Wesen voll innerlich widerstrebender Eigenschaften, in deutschen Köpfen zur höchsten Vollendung reifte und, indem er die reinsten und die unreinsten Triebe der menschlichen Natur zu einheitlicher Wirksamkeit verschmolz, gewissermaßen seinen innern Widerspruch überwunden zu haben schien. Aber gerade auf dieser gipfelnden Höhe schlug er sofort wieder in seinen genauen Gegensatz um. Während sich die revolutionäre Arbeiterbewegung in England und Frankreich aus verkehrten Zuständen, also immerhin mit einer gewissen Naturnotwendigkeit entwickelte, entstand sie bei uns im Mutterlande der größten Denker unter den Demagogen, welche der Socialismus hervorgebracht hat, zunächst als ein politisches Abenteuer. Es wäre thöricht zu glauben, daß es heute keine deutsche Sozialdemokratie gäbe, wenn es keinen Ferdinand Lassalle gegeben hätte, aber gewiß ist, daß, als er im Frühjahre 1863 seine Agitation aus mehr oder minder frivolen Beweggründen begann, unsere Arbeiter noch nicht entfernt daran dachten, sich aus freien Stücken gegen die bestehende Ordnung in Gesellschaft und Staat aufzulehnen, denn sie lebten in nichts weniger als unmenschlichen Verhältnissen.

Unter diesen Umständen ist es nicht möglich, die Person Lassalle’s zu umgehen, wenn man seine Schöpfung schildern will, so wenig es sonst gerade in sozialen Fragen gerathen sein mag, den Werth der Dinge nach den Schwächen oder Vorzügen der Personen zu beurtheilen und sie in dieser Weise sei es zu über- oder zu unterschätzen. Lassalle war eine edel und groß angelegte Natur; eine eiserne Kraft, ein mächtiger Wille, eine geniale Fähigkeit, mit glänzender Schärfe den innersten Kern der Dinge zu erfassen, hoben ihn hoch über das Maß selbst begabter Menschen empor. Sein Wesen hat die ersten Männer unseres Jahrhunderts bezaubert, darunter so durchaus verschiedene Charaktere wie einen Fürsten Bismarck, einen Böckh, Heine, Humboldt, Savigny. Alles war ihm gegeben, wonach höchster Ehrgeiz ringen mag, nur das Eine nicht, was die historische Größe von dem historischen Abenteurer scheidet, die selbstlose Hingabe an den Gedanken. Nichts lächerlicher zwar, als Lassalle zu betrachten wie einen verlaufenen Aufwiegler, der die Arbeiter für eigensüchtige Zwecke ausbeuten wollte, aber wohl kann auch der größte Eifer seiner glühendsten Bewunderer ihn nicht vor dem Vorwurfe retten, mit welchem Alles gesagt ist, vor dem Vorwurfe nämlich, daß ihm seine Person immer und überall höher stand als seine Sache. Gewiß hat er Werke geschaffen, die als eherne Denkmale menschlichen Fleißes und Geistes noch dauern werden, wenn die deutsche Sozialdemokratie bis auf den Namen erloschen sein wird, aber es lag doch ein tieferer Sinn darin, daß er die öffentliche Bühne zuerst in einem unsaubern Skandale betrat und in einem unsaubern Skandale zuletzt auch von ihr verschwand.

Noch ein Jüngling, kaum zwanzigjährig, warf sich Lassalle zum Ritter der Gräfin Hatzfeldt auf in jenem vielberufenen Ehescheidungsprozesse, welcher eine der merkwürdigsten Seiten deutscher Rechtspflege füllt. Er selbst nannte sein Dazwischentreten eine „religiöse Insurrection“, und er vergaß auch nicht den Opferstock aufzustellen, in welchen die Gräfin für den Fall des Sieges eine namhafte Spende niederlegte. Ringend und watend in diesem uferlosen Sumpfe, wuchs Lassalle zum Manne empor, und riesengroß wuchs mit ihm der eitle und gauklerische Zug seiner Natur. Man muß ihn beispielsweise nur hören, wie er vor den Kölner Geschworenen mit einer zitternden Thräne an der Wimper das schreckliche Loos seiner Clientin beklagt, die während der Dauer des Prozesses nur ein Jahreseinkommen von achttausend Thalern bezöge. Und als nach fast zehnjährigem Kampfe endlich ein günstiger Vergleich erzielt war, galt dieser zweifelhafte Gewinn dem Verfasser des „Heraklit“ und der „Erworbenen Rechte“ bis an sein Ende als der „größte Triumph“ seines Lebens.

Zweifellos haben auch in diesem ersten Abenteuer Lassalle’s ideale Momente gewaltet. Die Macht des Geistes als einen unübersteiglichen Damm entgegen zu setzen der Macht des Geldes und des Ranges, als ein jüdischer Knabe ohne Anhang und Namen einen der ersten Magnaten des Landes in den Staub zu werfen – wer mag leugnen, daß auch hier ein leiser Schimmer socialen Freiheitsdranges hineinspielt? Aber es war eben nur ein leiser Schimmer; in der Hauptsache hat Lassalle den furchtbaren Mißbrauch seiner herrlichen Gaben nie verwunden. Seitdem prahlte er wie ein Falstaff von seinen Heldentaten, und die Macht des Geldes wurde ihm bald eine werthvollere Waffe, als die Macht des Geistes. Niemals hat das schnödeste Geldprotzenthum sich nackter und roher geäußert, als da Lassalle sich feierlich in seinen jüngst veröffentlichen Briefen an eine russische Dame vermaß, niemals von dem Ertrage seiner Arbeiten leben zu wollen, und da er bei diesem Anlasse den Gelderwerb durch Geistesarbeit eine „geistige Prostitution“ nannte. Niemals ist eine gröbere Beleidigung dem Andenken unserer geistigen Heroen, einem Lessing und einem Schiller widerfahren, die freilich keine hohen Renten aus dem Gewinn von Skandalprocessen bezogen, wie Lassalle aus dem Processe Hatzfeldt, sondern schlecht und recht von dem Ertrage ihrer geistigen Thätigkeit lebten.

In der Mitte der fünfziger Jahre hatte Lassalle die Sache der Gräfin zu glücklichem Ende geführt; darauf siedelte er, noch in der ersten Blüte des Mannesalters, aus den Rheinlanden nach Berlin über, wo ein großer Schauplatz seiner großen Kraft harrte. Mit der Sicherheit der Magnetnadel wies sein gewaltiger Wille auf praktische Betätigung im öffentlichen Leben, allein die dumpfe Stickluft der traurigen Reactionszeit lähmte alle politische Thatkraft, und lange Jahre konnte sich diese faustische Natur nur gleichermaßen in dem bunten Wirbel des großstädtischen Lebens, wie in der verzehrenden Arbeit der Gedankenwelt erschöpfen. Aber auch als wieder ein freierer Luftzug durch Deutschland zu wehen begann, vermochte Lassalle nicht an die Kränze zu rühren, nach denen seine glühende Seele trachtete; die parlamentarische Bühne blieb ihm verschlossen, obgleich er mit mehr als einem Führer der allmächtigen Fortschrittspartei nahe befreundet war. Scheute man sein herrisches Wesen oder stieß man sich an seinem Verhältnisse zur Gräfin Hatzfeldt, genug, man gab ihm kein Mandat für das Abgeordnetenhaus und fügte ihm dadurch eine Kränkung zu, welche der ehrgeizige und leidenschaftliche Demagoge um so weniger vergaß, als er die Fortschrittspartei in der Frage des Militärconflicts auf falschen Bahnen zu sehen glaubte.

Er zögerte nicht, sich zu rächen. Zunächst suchte er die Berliner Bezirksvereine für sich zu gewinnen, allein diese Burgen der Fortschrittspartei erwiesen sich als uneinnehmbar. Seine glänzenden Reden rührten nicht die Herzen der Hörer, aber wohl erregten sie die Aufmerksamkeit des Staatsanwaltes, der ihm einen Proceß wegen Gefährdung des öffentlichen Friedens anhing. Das gerichtliche Verfahren erregte einiges Aufsehen namentlich durch die in ihrer Art großartige Verteidigung Lassalle’s; es lenkte auf ihn den Blick einiger Leipziger Arbeiter, die mit der Fortschrittspartei gleichfalls in Zwist gerathen waren. Dabei handelte es sich nicht eigentlich um sociale Beschwerden, sondern man stritt über das größere oder geringere Maß von politischem Radicalismus, das unter den obwaltenden Umständen zu bewähren sei. Jene Arbeiter, der Cigarrenmacher Fritzsche, der Schuhmacher Vahlteich und Andere, hatten ein Centralcomité gebildet, welches einen allgemeinen Arbeitercongreß berufen sollte, aber da kein Mensch wußte, was er eigentlich wollte, so war die Sache eben daran, im Sande zu verlaufen,. als ihr das Auftreten Lassalle’s eine andere Wendung gab. Das Centralcomité bat ihn um Hülfe und Rath; schnell entschlossen lieferte er in seinem „Offenen Antwortschreiben“ den systematischen Plan einer umfassenden Arbeiteragitation.

Ausgehend von dem „ehernen Lohngesetze“, wonach unter der Herrschaft von Angebot und Nachfrage das Einkommen des Arbeiters immer auf den notwendigen Lebensunterhalt beschränkt

  1. Vergl. über Lassalle „Gartenlaube“ 1865 Seite 815, 1867 S. 376, 1872 S. 576, 1877 S. 67 und 688.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_351.jpg&oldid=- (Version vom 1.1.2019)