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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

für Sicherheit des Lebens, für Gesundheit, für Bequemlichkeit, welche unsere Gemeinden, zumal die städtischen, ihren Angehörigen, also auch den Arbeitern, gewähren (Pflasterung, Straßenbeleuchtung, Wasserleitung etc.), und wofür, wie früher schon erwähnt, gerade diese letzteren verhältnißmäßig nur äußerst wenig, zum Theil gar nichts zahlen, nehmen wir fernerhin die vielen Mittel geistiger Bildung und Erholung, die den Arbeitern zugänglich gemacht sind – öffentliche Schulen, Volksbibliotheken, unentgeltliche Vorträge etc. – so wird man gestehen müssen, daß die ganze Lebensweise eines heutigen Arbeiters von der seines Vorgängers vor 100, ja auch noch vor 50 Jahren, unendlich verschieden, daß ihm nicht blos die Beschaffung der ersten Nothwendigkeiten des Lebens, die „Fristung der Existenz“ um Vieles erleichtert, sondern auch der Genuß einer Menge von Annehmlichkeiten, materiellen und geistigen, an die er früher gar nicht denken konnte, zugänglich gemacht ist.

Läßt sich somit durch Ziffern nachweisen, daß der Arbeiter von heute sich viel besser steht, als der von sonst, so können wir denselben Beweis auch von einer andern Seite her ebenso schlagend führen. Zunächst, indem wir die Thatsache selbst, daß wirklich der Arbeiter jetzt besser lebt, als früher, constatiren. Und das ist nicht allzu schwer. Vermögen wir auch nicht, dem einzelnen Arbeiter nachzurechnen, um wie viel mehr an Lebensgenüssen er heute braucht, als sein Berufsgenosse vor 100 Jahren, so giebt uns doch die Statistik indirecte Beweismittel genug dafür an die Hand.

Wenn wir z. B. erfahren, daß in Preußen der Verbrauch an Kaffee, Thee, Zucker, Bier, Branntwein, Wein, Tabak seit 1806 auf das Dreifache gestiegen ist, so werden wir nicht annehmen können, daß diejenigen Classen, die schon vorher Kaffee, Thee, Zucker etc. regelmäßig consumirten, ihren Verbrauch darin um so viel gesteigert haben sollten, vielmehr liegt die Vermuthung nahe, daß der Kreis derer, welche diese Artikel verbrauchen, sich erweitert hat, daß auch von den arbeitenden Classen, die sich diese Genüsse früher versagen mußten, wenigstens ein größerer Theil jetzt in der Lage ist, sich solche zu verschaffen.

Noch deutlicher zeigt sich dies bei einem anderen Verbrauchsartikel, dem Fleisch. In Sachsen stieg der durchschnittliche Fleischconsum von 1836 bis 1875 von 31 auf 59 Pfund für den Kopf der Bevölkerung, also nahezu auf’s Doppelte. Es ist nicht wahrscheinlich, daß die besitzenden Classen 1875 doppelt so viel Fleisch verzehrt haben als 1836, viel wahrscheinlicher ist, daß Solche, die früher nur ganz wenig Fleisch verbrauchten, jetzt wesentlich mehr davon consumiren. Dafür spricht auch der Umstand, daß die stärkste Steigerung in derjenigen Fleischsorte stattgefunden hat, welche mit Vorliebe die minderbemittelten Classen genießen, weil sie ihnen am leichtesten zugänglich ist, dem Schweinefleisch. Der Verbrauch von Schweinefleisch hat sich in dieser Zeit von 16 auf 34 Pfund (mehr als das Doppelte), der von Rindfleisch von 15 auf 25 Pfund, das ist nur wie 3 : 5, gehoben.

Der rühmlichst bekannte Statistiker Prof. Dr. Böhmert, Director des Statistischen Bureaus[WS 1] in Dresden, dem wir diese Notizen verdanken, bemerkt ausdrücklich dazu: „Die Vermehrung des Schweinefleisch-Consums beweist, daß der gestiegene Fleischverbrauch vorzugsweise die mittleren und unteren Volksclassen trifft, und daß die letzten Jahrzehnte einer besseren Ernährung des Volkes außerordentlich günstig gewesen sind.“ Ganz dasselbe, nur in noch viel stärkerem Maße, zeigt sich in Leipzig. Während die Bevölkerung der Stadt von 1858 bis 1875 nur um 71 Procent stieg, hob sich der Verbrauch an Schweinefleisch um 247 Procent, also um mehr als das Dreifache des Bevölkerungszuwachses. Dazu bemerkt – ganz im gleichen Sinne wie Böhmert – unser verdienter Statistiker Director Hasse: „Daraus geht unzweifelhaft hervor, daß der Wohlstand der unteren, vorzugsweise Schweinefleisch verzehrenden Classen in höherem Maße gestiegen ist, als derjenige der oberen, die mehr Rindfleisch verzehren.“

Diese Wahrnehmungen gelten für alle Culturländer. Nach Macaulay aßen beispielsweise zu Ende des siebenzehnten Jahrhunderts 440,000 englische Arbeiterfamilien höchstens einmal in der Woche Fleisch und bezog 1/5 der Bevölkerung Almosen. Jetzt ist der englische Arbeiter unzufrieden, wenn er nicht täglich sein Fleisch und seinen Thee mit Zucker genießen kann. Ein französischer Statistiker, Foville, weist durch genaue Daten und Zahlen nach, daß der Arbeiter in Frankreich, namentlich der ländliche, sich jetzt dreimal so gut steht, wie zu Ende des vorigen Jahrhunderts.

Aber es läßt sich nicht blos nachweisen (wie obige Daten zeigen), daß der Arbeiter von heute im Durchschnitt entschieden besser lebt, besonders sich reichlicher nährt, als der vor hundert Jahren, sondern auch, daß er trotzdem von seinem Arbeitsverdienste noch etwas übrig behalten und sparen kann. Lassalle stellte gegen Schulze-Delitzsch, der die Arbeiter auf’s Sparen verwies, die Behauptung auf: der Arbeiter könne gar nichts ersparen, und es sei frivol, ihm so etwas zuzumuthen. Diese Behauptung ist aber ebenso wenig stichhaltig, wie das sogenannte „eherne Lohngesetz“ Lassalle’s; auch sie findet ihre Widerlegung in den Thatsachen. Zunächst sind die Summen sehr beträchtlich, welche die Arbeiter in die verschiedenen Kranken- und Unterstützungscassen zahlen, wenn sich auch die Gesammtsumme dieser Einzahlungen nicht angeben läßt. Sodann entfällt von dem gewaltigen Capital, welches in den Sparcassen liegt, ein nicht unbeträchtlicher Theil auf die Ersparnisse von Arbeitern. Dieses Capital betrug 1874 für sämmtliche von Staatswegen autorisirte deutsche Sparcassen zusammen ungefähr 1880 Millionen Mark.[1] Leider besitzen wir über den Antheil der arbeitenden Classen nur sehr unvollständige Nachrichten, weil eine Statistik der Spareinlagen nach Berufsclassen allzu schwierig und zeitraubend, daher nur selten versucht worden ist. Für Württemberg haben wir eine solche auf die Jahre 1869 bis 1874. Da ergiebt sich denn, daß die Spareinlagen der unselbstständigen Arbeiter etwa ein Drittel, die der Dienstboten über die Hälfte, beide zusammen also etwa fünf Sechstel aller Einlagen betrugen, daß ferner die Summen der Arbeitereinlagen von 1869 bis 1874 sich verdoppelten. Rechnen wir aber für Arbeiter und Dienstboten in ganz Deutschland zusammen auch nur die Hälfte sämmtlicher Spareinlagen, so ergäbe dies die namhafte Summe von 900 bis 1000 Millionen Mark an Ersparnissen der arbeitenden Classen – ungerechnet die mancherlei sonstigen Gelegenheiten zum Sparen (Vorschußsparcassen, Sparvereine etc.), die Anlegung von Ersparnissen im Ankauf von Land u. dergl. m. Genug: die Thatsache, daß die arbeitenden Classen heutzutage von ihrem Erwerb einen nicht unbeträchtlichen Theil aufsammeln können und auch wirklich aufsammeln, steht außer allem Zweifel.

Und was folgt nun aus alle dem? Daß der Arbeiter von heute schlechthin mit seiner Lage zufrieden sein, auf jede Verbesserung seiner Verhältnisse, insbesondere der Lohnverhältnisse, verzichten müsse? Keineswegs! Oder daß die Gesetzgebung und die freiwillige Thätigkeit der besitzenden Classen in ihrer humanen Fürsorge für den Arbeiter nunmehr nachlassen könne, weil darin schon genug gethan worden sei? Ebenso wenig! Was wir aus den obigen Betrachtungen folgern, ist vielmehr nur dieses: es ist nicht wahr, daß der Arbeiter „immer“ nur gerade so viel verdiene, wie er zur „Fristung seiner Existenz“ oder zur nothdürftigen Erhaltung einer Familie nöthig hat; es ist nicht wahr, daß der Arbeiter bei allen Culturfortschritten leer ausgehe, daß er niemals weiterkommen könne, so lange die jetzige Staats- und Gesellschaftsordnung besteht. Wir sehen das Gegentheil davon durch Thatsachen bestätigt. Und weil dem so ist, so folgern wir weiter: es ist thöricht, wenn der Arbeiter sich unklaren Träumen von einem socialistischen Zukunftsstaate hingiebt, der, auch wenn er verwirklicht werden könnte, ganz gewiß dem Arbeiter selbst, wenigstens dem fleißigen und tüchtigen, nur schmerzliche Enttäuschungen bringen würde. Richtiger handelt er, wenn er auf dem Boden des Bestehenden rüstig und emsig vorwärts strebt und so seine Lage stetig verbessert, wie er bisher gethan hat, wobei wir allerdings voraussetzen, daß nicht blos die Gesetzgebung und die freie Thätigkeit der Privaten in ihrer Fürsorge für die Arbeiter nicht ermatte, sondern daß auch insbesondere die einzelnen Arbeitgeber nichts versäumen werden, um die Lage ihrer Arbeitnehmer und deren Verhältniß zu der ihrigen nach Kräften immer günstiger zu gestalten.


  1. Wir entnehmen diese Angabe einer ganz sicheren Quelle, der Statistique internationale des caisses d’épargne, combinée par le bureau de statistique du royaume d’Italie, présentée à la IX. session du congrès international de statistique 1876.

  1. Vorlage: Polytechnikums, siehe Berichtigung
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 323. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_323.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)