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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Gewohnheiten deutscher Einfluß geltend. Zu Ausgang des Dorfes liegt das dem Prinzen Biron gehörige Dominium, der, beiläufig gesagt, circa 65,000 Morgen Landes im Umkreise von Wartenberg besitzt.

Beim Eintritt in den weiten, von Ställen umgebenen Hof empfing uns gleich ein ungewöhnlich malerisches Bild. Mächtige Staubwolken aufwirbelnd, raste in wilder Jagd ein Zug prächtiger Schimmel und Füllen über den weiten, rundum von Wirthschaftsgebäuden umschlossenen Hof; eine große Rinderheerde ward eben in die Schwemme getrieben, und Kälber und Böcklein übten sich in ihren grotesken Kreuz- und Quersprüngen.

Wir waren zur guten Stunde angelangt. Knechte und Mägde, sonntäglich geschmückt, standen in einem Theile des Hofes und lenkten voller Erwartung ihre Blicke nach dem villenartigen Gebäude, das links vom Eingang inmitten eines sorgsam gepflegten Blumengartens lag. Nicht lange sollten wir im Unklaren über das Gesehene bleiben; der Inspector des Gutes nahm sich unser in leutseligster Weise an, erklärte uns, daß heute Erntefest sei, und lud uns freundlich ein, daran Theil zu nehmen. Wir folgten ihm in das weinlaubumrankte Gebäude und stärkten uns durch eine Tasse vortrefflich gebrauten Kaffees, den uns die liebenswürdige, hübsche Inspectorsfrau reichte, auf die kommenden Genüsse.

Da saßen wir denn und schwatzten über dies und das, als plötzlich ein schmetterndes, schrilles Signal uns aus unserer gemüthlichen Unterhaltung aufschreckte. Erwartungsvoll traten wir in’s Freie, und nun kamen die Leute paarweise anmarschirt, voran als besondere Respectsperson der mit einer knallrothen Festschärpe umgürtete Vogt, nach alter Sitte um Erlaubniß fragend, ob der Herr Inspector die Leute empfangen wolle. Nach leutseliger Gewähr bewegte der Zug sich nun bis zur Veranda des Hauses, voran ein paar Musikanten, die ihren Instrumenten die schneidendsten Töne entlockten. Die beiden Vormäherinnen, zwei kernige, dralle Gestalten mit buntem Aufputz, überbrachten die Erntekränze, zunächst dem Panocek (Herrn), dann der Pani (Herrin). Ein paar allerliebste schneeweiße Täubchen, geschmückt mit rothen Bändern, guckten aus dem Kranze des Ersteren. Auch wir wurden mit Kränzen bedacht, und zwar überreichte mir die hübsche Kaischa eine dicht mit bunten Papierstreifen und rothen Pfefferkuchen behangene Krone aus Buchsbaum und Haidekraut, in deren Mitte ein mächtiges Herz hervorleuchtete mit der Inschrift. „Nimm von lieber Hand dieses treue Unterpfand!“

Nach Beschluß des feierlichen Actes traten die Leute zusammen und sangen unter Begleitung der Musik den Choral „Nun danket Alle Gott!“, wie vielstimmig, weiß ich nicht – mag’s auch nicht ergründen. Kaum war der fromme Sang verklungen, da begann der Tanz; der Panocek wurde von der Großmagd geholt, die Pani vom ältesten Vogt, das Frölka (Fräulein) vom Großknecht, ich von der hübschen Kaischa, und als auch das überstanden, wir die üblichen Trinkgelder gegeben und die Veranstalter des Festes uns Allen ein Hoch ausgebracht, zog der ganze Trupp unter schmetterndem Trompetenschall in’s „Hôtel“ des Dorfes zur Fortsetzung des Tanzvergnügens. Gegen sechs Uhr folgten auch wir dorthin; schon auf der Treppe empfing uns dicker Staub, und nun gar erst der Saal!

Ueberall lärmende Männer und Frauen tanzend, trinkend und singend. Kaum erblickte uns die Gesellschaft, so ward Alles still; einer der Vögte in seiner Rolle als Tanzcommandeur kam auf die Pani zu; mich beglückte meine Kaischa, und nun wirbelte Alles dahin im bunten Tanzgewühl. Wagte es einer der Knechte, mit seiner Schönen den Reigen zu vervollständigen, so wurde er mit Püffen zurückgewiesen; „Solum! Solum!“ erscholl es aus heiseren Kehlen, und nicht eher durften wir im Tanze aufhören, bis die Musik verstummte. Nach Beendigung der Polka bestellten die Knechte für unsere Damen Bier, tranken es jedoch nach ihrer Ablehnung sehr gern selber aus. Eine volle Stunde hielten wir’s aus, dann entfernten wir uns still, um durch unsere Anwesenheit den Leuten den Vollgenuß ihres Glückes nicht zu verkümmern, die denn nun auch ihr lustiges Treiben in ungenirter Weise bis zum folgenden Morgen fortsetzten.

Solche Tage sind die spärlichen Lichtblitze in dem Leben dieser meistens kümmerlich aussehenden Menschen, deren düsteres, gedrücktes Wesen man erst verstehen lernt, wenn man einen Blick in ihre Häuslichkeit, in ihre Hütten wirft. Ich selbst besuchte einen Raum, in welchen vier, zusammen neunzehn Köpfe zählende Familien sich theilten: vier Wohn- und Schlafzimmer, vier Küchen und Keller, vier Speisezimmer und ebenso viele Ankleidegemächer. Betreten wir einen solchen Raum, so umfängt uns ein wirres Durcheinander – ein Chaos von Betten, Schränken, Kisten, Kasten, Haus- und Ackergeräthen.

Dort flackert auf niedrigem Herde der Holzstoß oder ein Kohlenfeuer und „überschummert“ das ganze Bild, die dunklen zusammengekauerten, lebhaft sich unterhaltenden Gruppen mit jenem blauen Hauch, der dem Maler als vermittelnde Lasur so lieb und willkommen ist. Genrebilder im Geschmacke Teniers’ und Ostade’s sehen wir überall; nur entbehren sie der glücklichen Behaglichkeit, der Heiterkeit, die wie ein Goldton über die Werke der alten niederländischen Meister sich lagert. Die grenzenlose Armuth ist’s, die Noth, die neben dem Herde kauert und jeden freudigen Zug aus dem Antlitz der Armen verscheucht.[1] Unvergeßlich ist mir der Anblick eines kranken Kindes, das mit seinen fragenden Kinderaugen so unendlich wehmüthig darein blickte.

Welchen Einfluß dieses gedrängte Zusammenleben der Familien auf die moralische Entwickelung der Einzelnen hat, ist unschwer zu ermessen. Und doch sind auf den prinzlichen Gütern die Verhältnisse noch golden zu nennen im Vergleich mit andern, weiter gen Osten gelegenen Landstrichen. Beim Anblick solcher Zustände ist mir oft der Gedanke gekommen – und ich spreche ihn hier unverhohlen aus –, ob die kolossalen Summen, die für Missionszwecke alljährlich zum Reiche hinauswandern, nicht besser im eigenen Lande verwendet würde. Es wären hier wohl schönere Früchte zu erzielen, als in den uns fern liegenden fremden Zonen.

Am folgenden Morgen standen drunten am Ziehbrunnen, der seinen langen Arm in die klare Herbstluft streckte, unsere Pferde bereit, die uns heute bis zur russischen Grenze bringen sollten. Nachdem wir von unseren freundlichen Wirthen Abschied genommen, ritten wir von dannen. Der Charakter der Gegend blieb so ziemlich derselbe: weit ausgedehnte fruchtbare Felder und Wiesen wechselten mit Nadelholzwaldungen, untermischt mit Birken, Erlen, Eichen und Buchen.

Nur da und dort war uns ein Mensch begegnet, ein schwer bepackter, hausirender Jude, ein „Dorfgeher“, wie ihn die Leute nennen. Aber jetzt wirbelte weit drüben in der Ferne eine Staubwolke gen Himmel, mit rasender Eile uns näher rückend. Immer kürzer ward die Distanz; immer deutlicher hörte wir ein Klirren und Klingen, dazu flinker Rosse hurtigen Hufschlag, und jetzt – da saust es heran auf luftigem Gefährt, das heimathlose, unstäte Pußtenvolk, Zigeuner aus dem Magyarenland. Gefesselt von dem malerischen Anblicke hielten wir unsere Pferde an, ließen den Zug vorüber und erwiderten der dunkelfarbigen Männer Anruf. Im Innern der Wagen aber ward es lebendig; da und dort lüpfte sich das geflickte, regengebräunte Zelttuch, und hervor lugten olivenfarbene Gesichter, umwallt von tiefschwarzem Kraushaar. – Doch auch sie flogen vorüber wie der Wind, und uns blieb nur die Feuergluth der dunklen, sprühenden Augen in der Erinnerung.

In einem Dörfchen, in welchem wir im Laufe des Vormittags anhielten, war wilder Lärm. Frauen und Männer, letztere mit weißen Tüchern um die Schulter und bunten Sträußen an den Mützen, standen vor der verriegelte Thür eines ansehnlichen Bauernhauses und baten mit jämmerlich flehender Stimme um Einlaß. Verwundert richtete ich meinen fragenden Blick zu meinem Begleiter hinüber, der mir lachend erklärte, daß es sich hier um eine Hochzeit handle.

„Das eine Hochzeit?“ erlaubte ich mir zweifelnd zu fragen; „wo haben wir denn die Braut?“

„Na, die ist eben drinnen,“ wurde mir erwidert, und nun machte mein Gefährte mich schnell mit der hier herrschenden Sitte bekannt, wonach dem herannahenden, von Mädchen und Brautführern umringten Bräutigam, der kommen will, seine Braut zu holen,

  1. Im Tagelohn verdient ein Mann 80 bis 100 Pfennig den Tag, die Frau 60 Pfennig. Auf einem Dominium, wo die Leute das ganze Jahr beschäftigt werden müssen, außer freier Wohnung 60 bis 80 Pfennig, die Frauen 30 bis 40 Pfennig, die Kinder 25 Pfennig. Ein Großknecht hat ein jährliches Einkommen von 16 bis 18 Thaler, dazu freie Wohnung, Holz und ein Deputat, bestehend aus 6 Metzen Weizen, 12 Scheffel Korn, 3 Scheffel Gerste, 2 Scheffel Erbsen, 1 Scheffel Haidekorn, 7 Beete Kartoffeln, 1 Beet Kraut, 186 Liter Milch, 6 Liter Butter, 10 Liter Salz und zu jedem hohen Feiertage 3 Silbergroschen für Fleisch und Bier.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 319. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_319.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)