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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

seiner Ernährung, fußend, folgende Berechnung aufstellt: In Preußen giebt es etwa zweiundzwanzig Millionen Sperlinge, und diese verzehren, gleichviel ob es eine reiche oder arme Ernte sein mag, jährlich elf Millionen Scheffel an Körnern; für Oesterreich nimmt er sechszehn Millionen an, für Baiern zweieinhalb Millionen, für Sachsen eineindrittel Million etc.. Mit unglaublicher Sicherheit spricht er dann das Todesurtheil über den Sperling aus und schlägt vor, man solle Gift legen, wie ein Apotheker in Jaroczyn in Posen, oder die Sperlinge Abends in den Ställen, wo sie zum Schutz gegen die Winterkälte Schlupfwinkel aufgesucht, schockweise mit Säcken todt schlagen, wie ein Pfarrer in Böhmen; man solle sie im Herbst, wenn sie sich in großen Schwärmen auf den Feldern zusammenrotten, massenhaft erlegen; man solle allenthalben ihre Nester zerstören; ja, selbst die Züchter und Pfleger von Harzer Canarien und anderen Singvögeln will er gegen die Sperlinge zur Feindschaft aufwiegeln, weil dieselben durch ihr häßliches Geschrei jene Sänger verderben. Schließlich erinnert er auch daran, daß sie gar nicht zu verachtende kleine Braten geben und in Italien als Leckerbissen mit Polenta verspeist werden – was dort freilich auch mit Schwalben, Nachtigallen, Grasmücken und anderen Vögeln geschieht. Und wenn er nun mit dem Ausruf schließt: „Die Vernichtung der Sperlinge ist eine Forderung der rationellen Landwirthschaft“, so müssen wir nothgedrungen an das Dichterwort denken. „Der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn!“

In der That, die Sperlingsfrage versinnbildlicht uns die Vogelschutzangelegeheit im Allgemeinen. Wer wollte an der Nützlichkeit des Staars, an seiner hochwichtigen Bedeutung für Ackerbau etc. Zweifel hegen? Trotzdem haben sich längst Stimmen erhoben, welche ihn verdammen, weil er nämlich wirklich zuweilen die Nester kleiner Singvögel ausräubert. Wie viele Leute giebt es, welche den Pirol, einen der größten und gefräßigsten aller Kerbthierfresser, ganz entschieden auf die Liste der schädlichen Vögel gesetzt sehen wollen, weil er die Kirschenernte schädigt! Die Saatkrähe, welche hinter dem Pflüger her Maikäferlarven sammelt und allerlei anderes, höchst verderblich wirkendes Ungeziefer vernichtet, will man neuerdings ebenfalls nicht mehr der Schonung werth halten, weil sie freilich auch das keimende Getreide arg zehntet. Ja, mancher Bienenvater haßt die allbeliebte, weil harmlose und durchaus nützliche Schwalbe, da sie angeblich seine Bienen wegschnappt. Welch hitziger Streit herrscht schon längst bis auf den heutigen Tag für und wider den Specht! Kurz und gut – wo gäbe es wohl irgend einen Vogel, von welchem man mit durchaus feststehender Sicherheit sagen könnte, er sei nur nützlich oder nur schädlich! Ja, diese beiden Begriffe selber sind an und für sich so wenig klar und feststehend, daß man sie doch keinenfalls als unumstößliche Stichwörter in dieser Angelegenheit ansehen sollte.

Faßt man die Frage des Vogelschutzes vom durchaus praktischen Gesichtspunkt aus in’s Auge, so erscheint sie bis jetzt noch staunenswerth wenig aufgeklärt; man streitet sich fortdauernd um das Abc, ohne zu positiven Anhaltspunkten zu gelangen. Ein bedeutungsvoller Schritt ist indessen in der oben erwähnten Regierungsvorlage gethan, und ich darf mit großer Befriedigung sagen: nach meinem Vorschlage; dies ist die Bestimmung, daß für alle Vögel (mit alleiniger Ausnahme solcher, deren offenbar überwiegende Schädlichkeit geradezu auf der Hand liegt), ebenso wie für das Wild, eine gesetzliche Schonzeit festgesetzt werden soll. Wenn in der übrigen Frist des Jahres alle Vögel gefangen werden dürfen, so ist damit einer wohlberechtigten Liebhaberei Raum gegeben. Es ist schon oft ausgeführt worden, daß aus mannigfachen Ursachen die Liebhaberei für Stubenvögel ein gewisses Recht hat. Wenn das Vogelschutzgesetz jeden Fang einheimischer Vögel verbieten wollte, so wäre es schwerlich durchführbar, ohne daß eine beträchtliche Anzahl sonst in jeder Hinsicht braver Menschen dadurch in Widerspruch mit Recht und Gesetz gelangen würde, und so hat die Idee der Schonzeit sicherlich gerade das Richtige getroffen, indem sie die für den Naturhaushalt und unsere Culturen hochwichtigen Vögel während des Nistens schützt und dem Freund der Stubenvögel doch die Möglichkeit läßt, seiner Liebhaberei nachzugehen. Jeder Massenfang aber, sowie namentlich der Vogelfang für die Küche müßte streng untersagt werden, und daher erachte ich es als ein schweres Unrecht, daß man den Fang der Lerchen und Krammetsvögel nach wie vor freigeben will. Man sollte doch bedenken, daß dadurch von vornherein die Grundidee der internationalen Vogelschutzvereinbarungen untergraben wird. Denn wie kann man verlangen, daß in Italien und anderen Ländern am Mittelmeer, wo die kleinen Vögel ein Volksnahrungsmittel bilden, der Vogelfang unterdrückt werde, während bei uns die Drosseln und Lerchen auch fernerhin der leidigen Schleckerei zum Opfer fallen sollen!

Eine Anzahl von Vögeln giebt es übrigens, welche offenbar zu den allernützlichsten gehören und die zugleich keinerlei Interesse für die Liebhaberei haben; ihr Fang wird von Niemand betrieben, und sie könnten und müßten daher diejenigen sein, welche niemals gefangen und erlegt werden dürfen, nämlich alle Schwalben, der Segler, die Nachtschwalbe, alle Spechte, Wendehals, Kleiber, Baum- und Mauerläufer, Kukuk und Wiedehopf. Sie sind freilich durch die im Gesetzentwurf vorgeschlagene Schonzeit vom 1. März bis 15. September als Zugvögel von vornherein geschützt, doch müßte für den, der sie tödtet oder verfolgt, noch eine ganz besonders hohe Strafe festgestellt werden. Uebrigens stehen die Schwalben und alle genannten Vögel auch gleichsam unter dem Schutze des ganzen Volkes.

Kehren wir nun aber zum Spatze zurück, und erwägen wir noch dies Eine: Denken wir uns den Sperling einmal als einen durchaus schädlichen Vogel völlig ausgerottet – so würde unserer heimischen Natur doch zweifellos ein belebendes Moment fehlen; Stadt und Land würden den ersten Vermittler zwischen Natur- und Menschenleben verloren haben, und ich bin fest davon überzeugt, daß nicht wenige empfindsame Leute den häßlichen, früher verachteten oder sogar gehaßten Spatz schmerzlich vermissen würden. Betrachtet man die Sperlingsfrage von diesem Gesichtspunkte aus, so ist es nicht schwer, ihr ganz andere Seiten abzugewinnen. Dann liegt es ja so nahe, daß der Sperling in den großen Städten, wo alle anderen Naturkinder vor der Menschenthätigkeit geflohen oder von des Menschen Wahn vertrieben sind, immerhin überaus willkommen ist und gehätschelt und gepflegt wird, viel mehr, als es sich mit seinem Wohlgedeihen verträgt. Man füttert in der Großstadt die Spatzen wohl das ganze Jahr hindurch und verhindert sie daran, daß sie die hier einzig mögliche nützliche Thätigkeit entfalten und die Rosensträucher auf dem Balcon, die Epheulaube, die Zwergobst- und andere Bäume von Blattläusen und Raupen säubern. Und wenn sie dann in nur zu großer Vermehrung durch ihre freche Zudringlichkeit recht lästig werden, so trägt man doch offenbar selber die Schuld daran.

Aehnlich verhält es sich auf dem Lande. Hier schont man den Spatz wohl aus Nachlässigkeit, läßt ihn ebenfalls zu übermäßiger Entwickelung gelangen und schilt dann weidlich über seine argen Räubereien. Da liegt die Moral doch recht nahe. Man sehe den Sperling als einen Vogel an, welcher unter Umständen auf dem Balcon, auf dem Hofe, im Garten und Hain dem Naturfreunde Freude und Vergnügen gewährt, der aber trotzdem überaus lästig werden kann! Man schütze ihn grundsätzlich, verringere aber die großen Schwärme im Spätsommer und Herbste, indem man sie möglichst zusammenschießt! Und im Allgemeinen halte man dem Sperlinge wie allen anderen unserer Nebengeschöpfe gegenüber immer die Augen offen, hege und pflege sie, wo sie uns zum Nutzen oder auch nur zur Erheiterung dienen, befehde sie und verkleinere ihre Anzahl, wo sie uns störend entgegentreten. In der Zeit aber, in welcher sie nisten, Eier oder Junge haben, lasse man sie unverfolgt, um der Barmherzigkeit willen und zur Ehre des Menschenherzens!




Der Kampf gegen die Verfälschung von Lebensmitteln.

In der Politik ist es so gut wie selbstverständlich geworden, daß jede ihrer Fragen zwei diametral entgegenstehende Beurtheilungen erfährt; auch in der Wissenschaft giebt es eine große Anzahl von Lehrsätzen, welche von einer Seite als die höchste Weisheit verbreitet werden, während ihnen andererseits jede Existenzberechtigung abgesprochen wird. Von den Fragen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_308.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)