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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


stehe, war ihm ebenso neu wie Jenem selbst, der nach seiner Versicherung Hunderte von Pustel-Kranken mit Sympathie und Besprechung aus einem alten Buche geheilt habe. Daraus lernte ich, beiläufig gesagt, wie aus einigen kurz darnach mir vorgekommenen Fällen daß eine Form des Milzbrand-Carbunkels trotz heftigen Fiebers, ähnlich den acuten Hautausschlägen, von selbst ohne alles ärztliche Zuthun oder höchstens unter homöopatischer Behandlung sich begrenzen und glücklich verlaufen könne.

Schlimmer als die auf Umwegen importirte Pustel ist die andere Milzbrandform, die Mycosis[1], die wir mit den Roß- und Kuhhaaren direct aus Rußland beziehen. Daß diese Haare weit gefährlicher als die Wolle sind, liegt auf der Hand, da sie ohne viele Umstände und ohne jedes Reinigungsverfahren verpackt und bearbeitet werden. Daher ist denn auch der Staub, der beim Oeffnen der Ballen sich entwickelt und den die armen Arbeiter wohl oder übel einathmen müssen, unerträglich.

Es ist mir unbekannt, wo der Markt für diese Waare sich befindet, ob in Petersburg oder Berdytschew. Vermuthlich ist aber jener Staub derselbe, von dem oben gesprochen worden ist, der Staub der Steppe und der Träger des Milzbrandes. Wer jene Heerden der Steppe, Wagenzüge der Schumaken, der Pestträger, wie sie doppelsinnig genannt werden, und die Tausende von Rindern, die alljährlich lediglich zur Benutzung der Felle in die Schlächtereien von Mariupol getrieben werden, gesehen, wer einem Pferdemarkt etwa in Kachowka, Berislaw gegenüber, beigewohnt hat, wo ein einziger tatarischer Pferdehändler aus Astrachan mit 300 Pferden den aus 10,000 bestellten Markt bezieht und Käufer und Verkäufer aus allen Himmelsgegenden, von den Ufern der Wolga, des Don und des Dnjepr zusammenkommen, der darf voraussetzen, daß mit solchem Ueberflusse keine andere Gegend concurriren kann.

Gleichviel jedoch, ob die Märkte des Nordens oder des Südens die Producte liefern, die Vorstellung ist nicht abzuweisen, daß der überall verbreitete Milzbrand, gegen den wir Leben und Gesundheit der Arbeiter zu schützen wohl nicht weniger berechtigt sind, als die Schutzzöllner ihre Industrien in Eisen, Getreide etc., mit dem Haarhandel en gros ausgeführt wird. Hier ein Beleg auch für die zuletzt erwähnte Form der Krankheit: Nachdem Professor Wagner in Leipzig seine Beobachtungen über Mycosis bei Sattlern und ähnlichen Gewerben mitgetheilt hatte, kamen binnen drei Monaten des Jahres 1875 allein in der jetzt eingegangenen Roßhaarfabrik zu Dessau vier Fälle dieser Krankheit vor, von denen drei binnen wenigen Tagen tödtlich endeten und die Section in zweien die Krankheitsursache nachwies. In wie vielen Fällen mag die Krankheit unerkannt und die Anzeige bei der Behörde unterblieben sein!

Hat sich gegen die von mir dargethane Art der Milzbrand-Einschleppung unsere Sanitätspolizei bisher ohnmächtig erwiesen, so ist zu erwarten, daß sie, durch die Pestgefahr geweckt, auch gegen jene Seuche strengere Maßregeln ergreife. Die Frage des Wie? zu erörtern, unterlasse ich; es kommen dabei vielerlei Interessen in Frage, die der Sachverständige würdigen muß. Nur bemerke ich, daß meines Erachtens am meisten die großen russischen Märkte im Sommer zu fürchten und deshalb in Betracht zu ziehen sind.

Sanitätsrath Dr. M. Fr.




Nürnbergs Volksbelustigungen im 16. und 17. Jahrhundert.
Ein Culturbild nach authentischen Quellen von Karl Ueberhorst.


III. Das Stückschießen.

Vor dem dreißigjährigen Kriege war das Stahl- und Armbrustschießen bekanntlich eine der Hauptbelustigungen des deutschen Volkes. Das wehrhafte Nürnberg aber fügte denselben in seinem „Stückschießen“ eine kriegerische Uebung bei, welche um so volksthümlicher werden mußte, als sie mit einem Theil seiner Industrie eng zusammenhing und zugleich dem selbstbewußten Bürger die Sicherheit seiner Stadt verbürgte. Wenn Nürnberg, welches mit Magdeburg von allen deutschen Städten am meisten während des Krieges zu leiden gehabt, dem Schicksale der protestantischen Schwesterstadt damals entgangen ist, so verdankt es dies lediglich nur der weisen Vorsorge seiner Bürger, welche so kriegsbereit und wehrhaft dastanden, daß der kluge Schwedenkönig ein enges Bündniß mit dem umsichtigen und starken Gemeinwesen als Grundbedingung für seine ferneren Operationen in Süddeutschland ansah.

Neben vielen anderen Erfindungen ist es hauptsächlich die Geschützkunst gewesen, welche in Nürnberg mit Vorliebe ausgebildet wurde. Augsburg und Nürnberg waren es, die fast ganz Deutschland mit Geschütz und Schießpulver versorgten, und die verschiedenen kleinen Modelle alter Geschützformen, welche als Reste des alten von Franzosen und Oesterreichern ausgeraubten Zeughauses im Germanischen Museum aufbewahrt werden, beweisen zur Genüge die vielfachen und kostspieligen Versuche zur Verbesserung des Geschützwesens.

Durch die nothwendig werdende Prüfung derartiger Verbesserungen nun, durch Erprobung neu gegossener Kaliber entstanden die ersten Stückschießen. Später mögen die Väter der Stadt dieselben um so lieber zu einem Volksfeste umgewandelt haben, als nicht nur der Ruf der Nürnberger Stückgießerei dadurch erhöht und das alte Ansehen der Wehrhaftigkeit erhalten wurde, sondern auch das bunte Gepränge der Aufzüge unzähliges Volk herbeilockte, wodurch der Stadt nicht geringerer Nutzen erwachsen mochte, als ein Jahrhundert früher bei der feierlichen Vorweisung der Reichskleinodien und Heiligthümer geschehen.

Zwei dieser Stückschießen nun zeichneten sich durch ihre besondere Pracht aus. Das erste derselben ward am 30. Juli 1592 abgehalten, und außer den zahlreiche Soldtruppen Nürnbergs zogen dabei allein 5000 Bürger in Wehr und Waffen auf. Aus den Bruchstücken eines sehr selten gewordenen, wenn auch groben Holzschnittes, welcher den umstehenden Illustrationen zu Grunde gelegt ist, ersehen wir, daß es dabei mehr oder minder noch nach altem Landsknechtsbrauch zugegangen. Die wuchtige Hellebarde schulternd, schreitet der Hauptmann voran. Ihm folgen die Spielleute mit Trommel und der alten Landsknechtspfeife, sowie der Fähnrich, welcher nach alter Sitte das Fähnlein fliegen läßt. Zum Schutz des letzteren schreitet ein ebenfalls mit der Hellebarde Bewaffneter hinter dem Fähnrich her. Der hier zur Verfügung stehende Raum verbietet leider die Wiedergabe des ganzen Bildes. Der Zug setzt sich weiter zusammen aus einem Kriegsherrn mit dem Commandostab nebst einem Gefolge von jungen Patriciern, welche, die Radschloßbüchse auf der Schulter, in der linken Hand die zum Auflegen des Gewehrs gebräuchliche Gabel führen, ferner aus Pritschenmeistern, Narren etc.. Die Hauptgruppe bildet eine von vier Pferden gezogene Karthaune. Umgeben von Schanzgräbern, welche Schaufeln und Spitzhacken führen, sehen wir den obersten Büchsenmeister, die brennende Lunte in der Hand, auf seinem Geschütze thronen. Mit sieben solcher Stücke ist an diesem Tage geschossen worden, und Hans Löhner finden wir als den Glücklichen verzeichnet, der das „Beste“, einen ungarischen Ochsen mit seidener Decke behangen, davongetragen.

Aber auch noch achtzig Jahre später, zu einer Zeit also, wo das übrige Deutschland bereits dem inneren Marasmus zu erliegen beginnt, wo jede Volkslust durch die Nachwehen des entsetzlichen Krieges erstickt und begraben, lebt in Nürnberg das Bewußtsein fort, daß nur durch die Wehrfähigkeit des Bürgers auch seine Selbstständigkeit erhalten werden kann. Obschon zu dieser Zeit auch hier das Schweifwedeln des Patriciats am kaiserliche Hofe um Adelsbriefe, Titel und Würden längst begonnen und eine strenge Scheidung des Geschlechter- und Bürgerstandes herbeigeführt hat, in der Sinn für Unabhängigkeit, der Stolz auf den alten Ruhm der Vaterstadt bei den regierenden Herren doch immer nach so vorherrschend, daß auch bei diesem Stückschießen sich noch einmal alle Kraft und Wehrhaftigkeit des alten Bürgerthums in seinem vollsten Glanze zeigen und dasselbe zu einem für diese Zeit höchst seltenen Volksfeste gestalten soll.

  1. Mycosis nennt man eine rasenförmige Ablagerung der durch die Luftwege eingewanderten Pilze in den Lungen, Därmen etc., die eine in den meisten Fällen tödtliche Krankheit herbeiführt. Der Arbeiter schütze sich dagegen durch eine mit Carbolsäure angefeuchtete Staubmaske. (Vgl. Bock, Buch vom gesunden und kranken Menschen S. 773 u. 694.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 303. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_303.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)