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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


No. 17. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Im Schillingshof.
Von E. Marlitt.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.


Es war sehr schwül geworden. Am südlichen Himmel stieg eine schiefergraue Gewitterwand auf; sie rückte allmählich wie mit bleierner Schwere vor; Linie um Linie erstickte das glanzvolle Abendlicht hinter ihr, und in die Häuser sank ein immer tieferes Dämmern, als bräche eine frühe Nacht herein.

Drunten im Vorderhofe herrschte jetzt beruhigende Stille. Das große Thor war geschlossen; seine Wölbung sah aus wie bekränzt durch die Kleebüschel, die das bröckelnde, zerklüftete Mauerwerk vom hochbeladenen Fuder weg an sich gerissen. Auch das Rasseln des Mauerpförtchens schwieg, nachdem der letzte, verspätete, kleine Kunde mit seinem ängstlich behüteten Milchtopf das Klostergut verlassen hatte. Vor dem Hühnerstall lag der Riegel; die Pfauen und Truthühner hockten auf ihren Stangen unter niederem Dach, und nur auf dem Rande des Brunnentrogs flatterten noch badelüsterne Tauben.

In der Platanenallee des Schillingshofes rührte und regte sich auch kein Leben mehr; alle farbenbunte und blinkende Ausstattung der eisernen Möbel war fortgeräumt, und die Baumhalle erhob sich mit ihren unbewegten Wipfeln und den regelmäßig aufsteigenden Stämmen wie aus dunklem Stein geschnitten unter den hochgethürmten Gewitterwolken. Von den blühenden Bosquets her aber wogte der Duft über die epheubewachsene Mauer in den Klosterhof, der in alten Zeiten, da noch die Mönche auf den Steinbänken unter den Linden saßen, auch ein undurchdringliches Dickicht von Heckenrosen, Weißdorn und Flieder, voll singender und brütender Vögel, in seinen tiefen, geschützten Ecken beherbergt hatte.

Eine Viertelstunde um die andere verging, und noch wanderte Felix, wartend im Giebelzimmer auf und ab. War es wohl je so grabesstill im alten Klosterhause gewesen, wie jetzt, wo er mit schwerbeklommenem Herzen und hämmernden Schläfen auf ein Lebenszeichen horchte. Wieder trat er an das offene Fenster und sah in die Abenddämmerung hinaus – da, endlich kam es die Treppe herauf, über den Vorsaal her. Die Thür wurde geöffnet, und der Luftzug hob leise das Lockenhaar an der Schläfe des jungen Mannes, aber er wandte sich nicht um; er zögerte, in das zürnende Gesicht seiner Mutter zu sehen.

Ein schwaches Rauschen, als streife ein Vogel mit flatterndem Flügel an den Wänden hin, huschte hinter ihm über die Dielen; der Luftzug brachte plötzlich einen köstlichen Rosenhauch mit – dann legten sich sammetweich und kühl, wie Blumenblätter, zarte Finger auf die heißen Augen des Aufhorchenden, und – ein lähmender Schrecken machte ihn vom Wirbel bis zur Sohle erstarren – „Lucile!“ stieß er schwach, wie mit verlechzender Kehle hervor.

Im Nu waren seine Augen befreit, und das reizendste Elfenkind, das je die Welt gesehen, hing wie ein Kobold lachend an seinem Halse, hinter der Thür aber, die sich eben schloß, sah er noch das schmunzelnde, breite Gesicht der Stallnymphe verschwinden – sie hatte „den Besuch“ heraufgeführt.

„Um Gotteswillen, Lucile, was hast Du gethan!“ rief er außer sich.

Die weichen Mädchenarme glitten augenblicklich von seinem Nacken, und das liebliche Gesichtsoval der jungen Dame verlängerte sich in namenloser Betretenheit – sie sah ihn mit halb erschrockenen, halb bösen Augen an.

„Was ich gethan habe?“ wiederholte sie trotzig und schmollend. „Echappirt bin ich. Ist das so schlimm?“

Er schwieg und horchte angstvoll nach dem Vorsaal hin – jetzt durfte seine strenge Mutter nicht kommen. Ihm war, als sei sein Kleinod, sein Abgott in eine Löwengrube gestürzt.

„Ich bitte Dich, Felix, stehe nicht da, als sei Dir die Butter vom Brode gefallen!“ sagte Lucile ungeduldig und zog mit einem heftigen Ruck das gelockerte Strohhütchen fester in die Stirn. „Bah, der Spaß ist verunglückt, wie ich sehe – ich hatte mir das amüsanter gedacht. Meinetwegen –“ sie zuckte nachlässig die Achseln – „ich kann auch wieder gehen, wenn ich dem gestrengen Herrn nicht gelegen komme.“

„Nein, o nein!“ rief der junge Mann, und jetzt zog er das Mädchen stürmisch an sein Herz und bedeckte ihr zartes Gesichtchen mit leidenschaftlichen Küssen.

„Puh!“ schüttelte sie sich und entschlüpfte ihm lachend und geschmeidig. Sie warf Hut und Taschentuch auf den Tisch und schleuderte eine lange über den Busen gefallene Locke in den Nacken zurück. „So, nun bist Du wieder vernünftig, Schatz,“ sagte sie. „Gestern hättest Du bei uns sein sollen – na, das Durcheinander! Du machst Dir keinen Begriff. Mama telegraphirte, sie habe sich den Fuß vertreten, müsse deshalb ihr Gastspiel abbrechen, und die Intendanz gestatte, daß ich an ihrer Stelle nächsten Montag die Gisella in den ‚Willi’s’ tanze; ich solle sofort abreisen. Ich saß gerade auf dem Balcon und knabberte mit dem Kakadu allerhand Gutes aus der Bonbonnière, die Du mir mitgebracht hast – ich sage Dir, wie eine zerplatzende Bombe fiel das Telegramm in’s Haus – die Jungfern, die Bedienten,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 277. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_277.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)