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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

herbeiführen könnte, da verstärkt das Eis die Gewalt der Strömung oder, was noch schlimmer ist, da bildet es durch Ansammlungen großer Massen von Schollen einen Damm gegen das Wasser, der sich mächtig dem Strom entgegenwirft und ihn zurücktreibt, daß er, sich anstauend, heraustritt über die Deiche, welche ihn in seine Grenzen bannen sollten, und nun seine Fluthen und die von oben her nachdrängenden Eismassen über die unter dem Niveau des Strombetts liegenden Ebenen des Flußthals ergießt. In diesen Ansammlungen der Eismassen, den sogenannten Stopfungen, liegt die große Gefahr eines Eisgangs, und diese Stopfungen kommen eben bei der Weichsel viel häufiger vor als bei irgend einem anderen Strome Deutschlands.

Die Hauptursache davon ist die eigentümliche Gestaltung des unteren Weichsellaufes. Sechs Meilen oberhalb der Weichselmündung, an der Montauer Spitze, spaltet sich der Strom in die eigentliche Weichsel und die Nogat. Letztere theilt sich eine Meile vor ihrem Ausflusse zunächst in zwei Arme und fließt dann, fortgesetzt sich in kleinere Arme spaltend, durch nicht weniger als 27 Rinnen in das Haff.

Bilder von der Weichselüberschwemmung. Nach der Natur gezeichnet von Robert Aßmus.
8. Das Reimann’sche Schankhaus bei Thorn.

Die eigentliche Weichsel theilt sich drei Meilen oberhalb ihrer Mündung, am sogenannten Danziger Haupt, wieder in die Danziger und die Elbinger Weichsel, welche nun in gerade entgegengesetzter Richtung, die eine west-, die andere ostwärts, der See zulaufen. Die Danziger Weichsel bewirkte 1840 einen Durchbruch der Dämme bei Neufähr, wodurch der weitere Stromlauf ein todter Arm wurde; die Elbinger Weichsel theilt sich 1 ½ Meilen oberhalb der Mündung in 17 Arme, in denen sie sich in das Haff ergießt. Diese seltsame Zerklüftung hat schon seit Jahrhunderten den Anlaß zu heftigen Kämpfen gegeben; Danzig sowohl wie Elbing suchten das Wasser der ungetheilten Weichsel für sich zu erlangen, und die Kämpfe um die Montauer Spitze bilden ein gar lehrreiches, hier nur leider zu weit abführendes Capitel von den Nachtheilen engherziger Bestrebungen, die nur das nächstliegende Interesse verfolgen und dabei das Wohl des Ganzen außer Acht lassen. Der Kampf ist jetzt dahin entschieden, daß man durch die sogenannte Coupirung der Nogat versucht hat, die Wassermenge, die durch die Nogat, und diejenige, welche durch die Weichsel abzufließen hat, in ein bestimmtes Verhältniß zu bringen und den Eisgang ausschließlich der Danziger Weichsel zuzuwerfen. Aber die Natur machte die Berechnungen der Techniker zu Schanden; der Eisgang der ungetheilten Weichsel hat sich wiederholt in die Nogat geworfen, welche ebenso wenig wie die Elbinger Weichsel im Stande ist, diese großen Eismassen aufzunehmen, und so entsteht denn für die Nogat-Niederung mit jedem Eisgang die Gefahr, daß die Eismassen aus der Nogat in die Niederung dringen – eine Gefahr, welche die entsetzlichste Gestalt 1855 annahm, als die Dörfer Groß- und Klein-Montau und Klossowo beinahe gänzlich von der Erde vertilgt wurden. Die anderweite Regulirung des Stromes ist schon lange geplant, eine bestimmte Entscheidung ist aber bei den verschiedenen sich widerstreitenden Interessen noch nicht getroffen worden. Durch Pulversprengungen, welche auf weite Strecken eine Rinne in der Weichsel bildeten, hat man in den letzten Jahren den Abzug des Eises durch die Weichsel sichern und das Eis von der Nogat fernhalten müssen.

Außer diesen für den unteren Lauf der Weichsel geltenden besonderen Verhältnissen aber liegt der gefährliche Charakter der Weichsel auch in der geographische Lage im Allgemeinen. Auf ihrem 144 Meilen langen Laufe von Süden nach Norden berührt die Weichsel Länder von sehr verschiedenem Klima. Wenn im Norden die Eisdecke der Weichsel noch fest gefroren liegt, ist oft in Polens Ebenen plötzlich mit aller Macht der Frühling in’s Land gekommen und hat der Weichsel neue Wassermassen gebracht, die Eisdecke zerbrochen und dem Norden zugesandt. In schnellem Strom schwimmen die Eisschollen, sich drängend und in einander schiebend, herab; auf Meilen weit haben sie die Eisdecke vor sich her aufgebrochen – da plötzlich wird ihre Macht aufgehalten; das Grundeis hat eine Stopfung gebildet, oder die starke Eisdecke des Nordens leistet noch Widerstand. Nun thürmen sich die Schollen zu gewaltigen Eisbergen auf einander; das Rauschen des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_272.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)