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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

hingerichtet, welche unter Anderem „ain und zweintzig Hagel und Schauer gemacht“ hatten; im Jahre 1666 am 9. Januar ebendort der achtundsiebenzigjährige Simon Altsee von Rodenbach durch unsagbare Martern zum Tode gebracht, weil er elf namentlich aufgezählte Orte verhagelt zu haben schuldig befunden worden war.

Das kirchliche Ritualbuch, dessen sich der vorhin erwähnte, noch heute in Aachen lebende Bischof Laurent bediente, steht andauernd in voller Geltung. Die damit charakterisirte Weltanschauung ist also die geistige Atmosphäre, in welcher sich fortwährend der Volksunterricht in den katholischen Gegenden bewegt, soweit die Geistlichen ihn noch in Händen haben. Die Macht, welche die Wechselwirkung zwischen dem Menschen und der leblosen Natur beherrscht, ist der durch Gebet lenkbare, hier belohnende, dort strafende „Finger Gottes“; von Zeit zu Zeit greift dann der „Böse“ dazwischen, um sich auch sein Theil zu sichern. Um gegen den Letztern sich zu wehren, hat man jedoch das Weihwasser und sonstige Segnungen. So kam auch zu Marpingen der Ortspfarrer Neureuter und ein benachbarter Amtsbruder, als ihnen im Jahre 1877 der Verdacht aufstieg, ob nicht, möchten auch die ersten Erscheinungen himmlischer Natur gewesen sein, später doch „diabolische“ Einflüsse mit untergelaufen wären, auf die tiefsinnige Idee, dies durch Weihwasser zu erproben. Hinter dem Rücken der in’s Pfarrhaus beschiedenen drei Wunderkinder goß der Pfarrer Hammer aus der von Neureuter ihm dargereichten Flasche in die hohle Hand und besprengte damit die drei lebendigen Räthsel. Leider kamen die zwei Gottesgelehrten trotz des Weihwassers über ihre Frage nicht mit sich in’s Reine.

Glücklicher war Dr. Paul Majunke. Dieser erklärte im Zeugenverhör am 7. März: „Bei mir war die Frage, ob die Vorgänge von Marpingen natürlicher oder übernatürlicher Art seien, schon bald, nachdem ich dort hingekommen war, entschieden; nur darüber war ich noch im Zweifel, ob sie einen göttlichen oder einen diabolischen Ursprung hätten. Ganz gewiß aber scheint mir ein diabolisches Element im Spiel gewesen zu sein, als die kleine Margarethe Kunz die gehabte Erscheinung vor dem Criminalcommissar widerrief."

Die eben genannte jetzt elfjährige Margarethe Kunz, der Keim, aus welchem der ganze Schwindel erwuchs, ist, wie aus dem Proceßmaterial zu erkennen, in ihrem ländlichen Kreise das im Kleinen, was Dr. Paul Majunke in der Weltpolitik und im Großen. Die Lust am Fabuliren und das Bewußtsein, es zu können, haben sie zu dem gemacht, was sie geworden ist; die winkenden Vortheile, die drohenden Nachtheile hielten sie dann in ihrer Rolle fest, oder ließen sie zeitweilig aus derselben herausfallen, je nachdem.

Auch der zeitgeschichtliche Hintergrund ist bei der Beurtheilung der Marpinger Vorgänge nicht außer Acht zu lassen, denn auch bei geistigen Epidemien – und das Anwachsen des in Rede stehenden Schwindels war eine solche – kommt Ansteckungsstoff zu einer vorhandenen krankhaften Disposition. Der Keim der ganzen modernen Marien-Erscheinung-Krankheit ist jedenfalls in den Ereignissen von Lourdes zu suchen; der deutsch-französische Krieg brachte einen weiteren Trieb; die Muttergottes-Erscheinung zu Pontmain am 17. Januar 1871, zwischen sechs und neun Uhr Abends, fünf Tage nach Verlust der benachbarten Stadt Le Mans an die deutschen Truppen. Wie die zu Le Mans erscheinende „Semaine du Fidèle“ in ihrer Nummer vom 18. Februar umständlich erzählte, sahen bei Poutmain vier kleine Mädchen aus einer Klosterschule über dem Dach einer Scheune die heilige Jungfrau in sternbesäetem Gewande und goldener Krone. Eine aufleuchtende Inschrift forderte zum Beten auf und verhieß „Erhörung in kurzer Zeit“. Von da an war die Muttergottes fortwährend auf der Wanderschaft.

Am 7. Juli 1872 begann sie ihre Vorstellungen im Elsaß und zwar im Gehölze von Krüth, einem Weberdorfe im Weilerthale, Kreis Schlettstadt. Auch hier waren kleine Mädchen die begnadigten Seher. Bald kam die Erscheinung allein, bald mit dem Jesuskinde, mit dem heiligen Joseph, mit Engeln, einmal sogar mit Pius dem Neunten. Am 10. Januar 1873 schleuderte die Muttergottes ein Schwert gegen den Rhein; ein anderes Mal sah man sie auch vor einer verschlossenen Kirchenthür stehen, einen preußischen Wachposten daneben, wie als ob dieser sie hindere, einzutreten. Der Schwindel bei Krüth, der an manchen Tagen bis zu 15,000 Menschen zusammenführte, dauerte bis in den Sommer, wo ihm durch die Einquartierung einer Compagnie Sachsen in dem genannten Dorfe ein Ende gemacht wurde. Aber nun zeigte sich die Muttergottes an anderen Orten – man zählte deren schließlich über dreißig –, auf den Arsenalgräben von Metz, auf den Schlachtfeldern von Weißenburg, bei St. Quirin im Kreise Saarburg, zu Rimlingen im Kreise Saargemünd. An einzelnen dieser Orte blieb sie Monate lang.

Bevor wir uns specieller dem Marpinger Spuk, der am 3. Juli 1876 begann, zuwenden, sei, der Vollständigkeit halber, im Vorbeigehen noch der Erscheinungen von 1877 und 1878 zu Dittrichswalde im Ermlande, welchen die „Gartenlaube“ bereits früher (1878, Nr. 2[WS 1]) einen längeren Artikel widmete, sowie des kurzen Besuches gedacht, den die Muttergottes im April 1877 der Regensburger Diöcese machte. In dem Bezirke Deggendorf an der Donau – der Name erinnert an den großen Judenmord von 1337 wegen angeblicher Verunehrung des Abendmahlbrodes – liegt das von Karl dem Großen gegründete Benedictinerstift Metten. An einem in der Nähe befindlichen Ort, Mettenbuch, erschien die Muttergottes einigen Kindern mehrmals bei einem Gesträuche und heilte Kranke. Das Wallfahren zu diesem Heiligthume und die an solchen Orten emporwuchernden Geschäfte mit sogenannten Devotionalien, Extra-Gebeten, gedruckten Heilungs- und Wunderberichten etc. war am Schlusse des Jahres 1878 zur schönsten Blüthe gediehen, als der Regensburger Bischof Ignaz Senestrey dem Unfuge mit einem Mal ein Ende machte; er erklärte, die eingehendsten Prüfungen angestellt und Alles, was man Wunderbares von Mettenbuch erzählt habe, als haltlos und grundlos erfunden zu haben. Dessen hatte man sich von diesem sonst so jesuitenfreundlichen Manne auf keiner Seite versehen, aber die Ehre, die ihm für diese Entschiedenheit gebührt, hätte man sich in Straßburg, Trier und im Ermlande auch verdienen können. Jetzt, nachdem der am besten „beglaubigte“ Marpinger Trug durch die Enthüllungen des Prozesses ein Ende mit Schrecken genommen hat, ist es für eine solche Errungenschaft zu spät.

Der preußischen Staatsbehörde war, nachdem der Ortsgeistliche zu Marpingen, Pastor Neureuter, den Unfug ostensibel nur „gewähren“ ließ, thatsächlich aber förderte, und das Domcapitel zu Trier ausdrücklich jede Mitwirkung zur Hemmung des Schwindels und Bloßlegung seines Untergrundes abgelehnt hatte, keine andere Handhabe zu diesem Zwecke geblieben, als die Erhebung der Anklage wegen Betruges gegen den genannten Ortsgeistlichen, einige umwohnende Pfarrer, die Eltern der drei minderjährigen Wunderkinder, zwei Literaten, die durch ihre in mehr als 60,000 Exemplaren verbreiteten Broschüren für die Verbreitung und gläubige Annahme der vorgeblichen Erscheinungen gewirkt hatten, und einige andere völlig unbedeutende Persönlichkeiten. Zur Anwendung kam also der § 263 des Reichs-Strafgesetzbuches: „Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten (hier die Kirche zu Marpingen) einen rechtswidrigen Vermögensvortheil zu verschaffen, das Vermögen eines Anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Thatsachen einen Irrthum erregt oder unterhält, wird wegen Betruges mit Gefängniß bestraft, neben welchem auf Geldstrafe bis zu 1000 Thaler sowie auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden kann. Sind mildernde Umstände vorhanden, so kann ausschließlich auf die Geldstrafe erkannt werden.“

Es lag der Staatsbehörde um so mehr nahe, auf Grund dieses Paragraphen die Anklage zu erheben, als die Gerichte bereits an verschiedenen Orten der Rheinprovinz Solche verurtheilt hatten, welche, gereizt durch die Marpinger Erfolge auch in pecuniärer Beziehung, Concurrenz-Wunderorte zu etabliren versuchten.

Die Erscheinungen zu Marpingen hatten, wie schon bemerkt, Anfangs Juli 1876 begonnen. Schon im März des folgenden Jahres zeigte sich die Muttergottes auch auf der Gappenacher Mühle bei Polch im Regierungsbezirke Coblenz in einer Flasche Marpinger Wassers. Der schon früher den Gerichten einmal verfallene stark verschuldete Müller hatte, wie einstmals der Doctor Faust, „viel Zulauf, das läßt sich denken“. Im Keller fand man, als die Polizei der Sache Einhalt that, noch 450 Mark und 640 Kerzen als Votivgaben; außerdem hatte der Müller schon

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: 1879, Nr. 2
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_267.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)