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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

schalt er. „Was hat man Dir gestohlen, Du Habenichts? Wirst Du mir wohl erklären, inwiefern Du beraubt worden bist?“

„Als man mir das Vaterhaus nahm,“ entgegnete Felix mit erschütterndem Klang der Stimme, indem er durch eine energische Wendung die Hand des Onkels von sich schüttelte. „Wenn ein Vater stirbt, so ist das eine Fügung des Himmels, der sich die Kinder unterwerfen müssen – niemals aber sollten Menschen Vater und Sohn auseinanderreißen; denn sie sollen sich ergänzen; sie gehören zusammen, weit mehr noch als Mutter und Sohn.... Und mein Vater hat mich unsäglich lieb gehabt. Ich weiß heute noch, was ich gefühlt habe, wenn er mich in stürmischer Zärtlichkeit an sich preßte, an sein starkschlagendes Herz, der schöne, stolze, herrliche Soldat, den man leichtsinnig schilt, weil er kein Philister gewesen ist.“

Er schwieg und athmete tief auf, als sei das Ausgesprochene eine die ganzen Jugendjahre hindurch getragene Bergeslast gewesen. Seine Mutter hatte bei seinen letzten Worten die Thürstufe, auf der sie gestanden, verlassen; er hörte, wie draußen ihr Gewand schwer und langsam über die Steinplatten der Küche hinschleifte; er hörte, wie sie die schmale nach dem Hinterhof führende Glasthür öffnete – dann sah er sie mit gesenktem Kopfe über den Hof gehen und in dem gegenüberliegenden Hintergebäude verschwinden. Dort führte eine Thür nach dem Garten.

„Verlorener Sohn!“ stieß der Rath mit vor Ingrimm erstickter Stimme hervor. „Das verzeiht Dir Deine Mutter nie. Geh, mache, daß Du aus meinem Hause kommst! Hier ist kein Raum mehr für Dich. Ich kann den Himmel nicht genug preisen, daß er die Wolframs in meinem Kinde neu aufblühen läßt und ihr altes Stammhaus vor der fremden Kukuksbrut bewahrt.“

Er ging hinüber in sein Zimmer und schlug die schwere, metallverzierte Thür klirrend hinter sich zu, während der junge Mann schweigend, mit fliegenden Händen das einzige Erbe aus dem Vaterhause, das silberne Eßbesteck, zusammenraffte, um ebenfalls die Wohnstube zu verlassen.



5.

Wie betäubt ging er durch die Küche und schob den Riegel der Thür zurück. Beim Oeffnen scholl ihm Stimmengeräusch entgegen; es hatte sechs geschlagen; die Hausflur war mit Frauen und Kindern erfüllt, und über den vorderen Hof her kamen sie immer noch geströmt, die Abendkunden des Klostergutes, die blechernen und irdenen Henkeltöpfe oder den Steinkrug in der Hand. Die Stallmagd hatte eben zwei Eimer voll schäumender Milch auf den Fußboden niedergesetzt und sah sich staunend um, denn der Platz am Schanktisch war noch leer – zum ersten Mal, seit sie auf dem Klostergute diente; selbst am Sterbe- und Begräbnißtage der seligen Frau Räthin war der Posten pünktlich eingenommen worden in dem Augenblick, wo die Milch von den Ställen hergebracht wurde.

Felix schritt rasch durch die versammelten Leute. Sonst hatte ihn der „Milchhandel“ dergestalt angewidert, daß er stets um diese Zeit über ein verstaubtes Hintertreppchen gegangen war, um dem Menschenandrang in der Hausflur auszuweichen. Heute sah er mit zerstreutem Blick über die Köpfe der Wartenden hinweg; er bemerkte nicht, wie er gegrüßt wurde, wie sich die Frauen und Mädchen heimlich anstießen und den bildschönen jungen Herrn mit den Augen verfolgte, während er flüchtigen Fußes die kreischende Treppe hinaufsprang – zum letzten Mal. Nie, nie wieder wollte er zurückkehren in das dunkle Haus, in diesen von Mönchen gebauten und von einer engherzigen, phantasiearmen Familie durch alle Generationen hindurch sorglich conservirten Sarg, dem die Menschenseelen angepaßt wurden, indem man jede schüchtern hervorwachsende Schwinge abschnitt, jeden traditionswidrigen Geistesfunken mit dem Fuße austrat.

Die kleine Reisetasche des Ausgewiesenen lag noch droben im Giebelzimmer auf dem Tische; die mußte er holen. Er wollte mit dem Nachtzuge nach Berlin zurück; vorher aber seinen Freund Arnold im Schillingshofe sprechen. Das waren die einzigen klaren Entschlüsse, die sich empor rangen aus den aufgestürmten Wogen namenloser Erbitterung, aus dem Wirbel, in welchem sein furchtbar erregtes Gehirn kreiste. Bis hinunter zu dem Grundgedanken, wie es nun werden sollte, kam er nicht – immer wieder wälzte sich das Geschehene durch seinen Kopf.... Er war vorgestern von Berlin abgereist – Madame Fournier, die augenblicklich in Wien gastirte, hatte ihrer alten Mutter geschrieben, daß der Hoftheaterintendant auf ihren Wunsch, Lucile demnächst auf der Bühne des Kärnthnerthor-Theaters debütiren zu lassen, einzugehen scheine; diese Nachricht hatte ihn tief erschreckt, den er verhehlte sich nicht, daß ihm die Geliebte halb und halb verloren sei, wenn sie einmal ihren Triumphzug begonnen habe. Und sie selbst hatte ihn in leidenschaftlicher Ungeduld gedrängt, seine Verhältnisse sofort zu ordnen und dann nach Wien zu gehen, um persönlich mit ihrer Mutter zu verkehren – und nun war Alles in den ersten Stunden gescheitert. –

Er preßte die Hände gegen die heftig klopfenden Schläfen, als könne er mit dieser einen verzweifelten Bewegung seinen zerrütteten, aus der Bahn geschleuderten Gedankengang wieder einlenken, einen leitenden Faden in dem ungewissen Dunkel finden, in das er aus der Sonnenhelle seiner sanguinischen Hoffnungen mit geblendeten Augen gestürzt war.... Er hatte sich mit seiner Mutter entzweit für immer. Das sagte der Onkel nicht allein, er fühlte es selbst, daß sie ihm die unzerstörbare, enthusiastische Liebe zu seinem verschollenen Vater nie verzeihen, noch weniger aber die Rücksichtslosigkeit vergessen werde, mit der er endlich seinem stillschweigend getragenen kindlichen Schmerz Luft gemacht hatte.

Wie schroff und hart, wie unbeugsam war sie ihm aber auch gegenüber getreten! So war es immer gewesen. Da hatte es nie ein mütterlich sanftes Zureden und Vorstellen, nie, so lange er denken konnte, jenes teilnehmende Mitversenken in des Kindes Freud’ und Leid gegeben, das die Lust heller erglühen macht und das Weh sänftigt, wie das Streicheln einer weichen, linden Hand – ihre ganze Erziehungsweise war ein barsches Commando gewesen.... Und wie blitzschnell war sie vorhin mit dem Entschlusse, ihr einziges Kind zu enterben, fertig geworden – ja, zu schnell, selbst für eine augenblickliche Eingebung! – Das war wohl schon vorher gedacht worden. – Und jetzt kroch ein finsterer Argwohn schlangengleich an dieses arglose, bis dahin im idealen Vertrauen förmlich aufgehende Herz des Jünglings heran und packte es wie ein Dämon. Wie, wenn der Familienfantismus seiner Mutter so weit ging, daß ihr der Vorwand nicht unwillkommen gewesen war, ihr großes Erbtheil den Wolframs wieder zuzuwenden?

Er lief, wie von Harpyien verfolgt, im Giebelzimmer auf und ab.... Nimmermehr! Ein solch entsetzlicher Verdacht entwürdigte ihn selbst; er war eine Befleckung seiner eigenen Seele, eine Art von unedler Revanche, die ihm die Schamröthe auf die Wangen trieb.... Da lag noch das Schreibeheft auf dem Tische; das Verzeichniß der aufgeschlagenen Blattseite bewies unwiderleglich die treue Sorge, mit der die Mutter seiner Zukunft gedacht hatte; freilich war die verzeichnete Wäsche nur für den Ausstattungsschrein einer jungen Frau im Sinne der Majorin, einer vornehmen Beamtentochter, oder der Erbin eines reichen Fabrikherrn bestimmt gewesen; aber das that doch dem Impuls keinen Abbruch. Und dort im Fensterbogen hing das Bild ihres Sohnes; wenn sie arbeitend am Tische saß, mußte sie bei jedem Aufblicke in sein Gesicht sehen. Nein, liebeleer war ihr Herz nicht, wenn auch ihre starren Vorurtheile, ihre geradezu männliche Strenge gegen sich selbst und ihre Angehörigen ihr den Anschein völliger innerer Kälte gaben.

Zögernd griff er nach seiner Ledertasche und warf den Riemen über die Schulter – er war zum Fortgehen gerüstet. Dennoch blieb er stehen und horchte gespannt, ob nicht wohlbekannte Schritte über den Vorsaal kämen.... Es verstand sich von selbst, daß er das Klostergut auf Nimmerwiederkehr verließ, aber schmerzbewegt gestand er sich, daß es ihm unmöglich sei, von seiner Mutter für immer zu gehen, ohne ihr gesagt zu haben, wie ihm seine leidenschaftliche Heftigkeit ihr gegenüber leid thue; er mußte sie noch einmal sehen, selbst – wenn sie sein Abschiedswort in verächtlichem Schweigen anhören und nicht erwidern sollte.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_264.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)