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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


„Du machst Dich lächerlich mit Deiner sittlichen Entrüstung mein Sohn,“ sagte die Majorin und griff gelassen nach der Rechten, die Felix in unwillkürlicher Drohung gehoben hatte. Sie war wieder der Gleichmuth selbst; weder Sohn noch Bruder hatten die unheimliche Flamme in ihrem Blick bemerkt. „Der Onkel hat Recht – es gehört Muth dazu, vor uns von dieser Menschenclasse zu sprechen –“

„Mehr Muth ganz gewiß nicht, als meine arme Lucile braucht, um ihrer Familie die Liebe zu mir einzugestehen,“ unterbrach sie der junge Mann erbittert. „Madame Fournier macht ein Haus in Berlin wie eine Fürstin; ihre alte Mutter aus vornehmer, wenn auch verarmter Familie präsidirt im Empfangssalon, den Persönlichkeiten aus den ersten Ständen aufsuchen. Arnold von Schilling kann Dir am besten sagen, daß wir Beide in der glänzenden Gesellschaft meist sehr unbedeutende Nebenfiguren gewesen sind.... Und in diesem Kreise ist Lucile seit einem Jahre der Mittelpunkt, der Abgott Aller. Sie ist schöner noch als ihre Mutter und ebenso talentvoll; für Mutter und Großmutter ist sie ein aufgehender Stern –“

„Willst Du mir nicht sagen, welche Rolle die Ehefrauen der Besucher in Madame Founier’s Salon spielen?“ unterbrach die Majorin kurz und schneidend die Schilderung.

Ihr Sohn schwieg bestürzt, und seine Augen suchten unsicher den Boden. „Die meisten dieser Herren sind unverheirathet –“

„Und die verheiratheten lassen ihre ehrbaren Frauen zu Hause,“ ergänzte sie mit einem unbeschreiblichen Gemisch von unterdrücktem Groll und eisiger Verachtung. „Wenn Du glaubst, mich mit der forcirten, kläglich nachgeäfften Vornehmheit dieser Tänzerinnensalons zu blenden, so irrst Du Dich gründlich – ich kenne die Lockerheit, den Sumpf hinter der gemalten Leinwand, und diese Kenntniß habe ich theuer genug erkauft.“

Felix schrak zusammen vor dem grellen Licht, das diese Worte in das Dämmerdunkel seiner Kindererinnerungen, über gewisse unbegriffene Vorgänge im Königsberger Elternhause warfen – jetzt verstand er sie; jetzt wußte er, weshalb sich die Mutter, bis zur Unkenntlichkeit vermummt und verschleiert, spät Abends von seinem Bettchen weggestohlen hatte; sie war heimlich dem Vater nachgegangen.... Diese Erkenntniß raubte ihm den letzten Rest von Hoffnung – es galt nicht allein mehr gegen „spießbürgerliche Vorurtheile“ anzukämpfen, die beleidigte Ehefrau, die sich in ihren Rechten durch jene „Menschenclasse“ beeinträchtigt gesehen hatte, stand in starrer Unversöhnlichkeit vor ihm. Ihn überkam eine Art von Verzweiflungsmuth.

„Ich darf und will Dein strenges Urtheil nicht anfechten, weil ich nicht weiß, was Du erlebt hast,“ sagte er, sich die äußere Fassung erzwingend. „Im Grunde denke ich ja ähnlich – obgleich ich schwören kann, daß im Fournier’schen Hause Anstand und Sitte nie verletzt werden, aber ich will auch mein Mädchen nicht von der Bühne weg heirathen, und deshalb bin ich jetzt hierher gekommen. Lucile hat die Bretter noch nicht betreten, obgleich sie bereits als vollendete Künstlerin gilt. Madame Fournier, deren Stern im Erbleichen ist, hat sie selbst unterrichtet; sie glaubt so fest an eine große Zukunft ihrer Tochter, die sie allerdings mit auszubeuten wünscht, daß sie selbst die ernstgemeinten Bewerbungen des Grafen L. um Lucile’s Hand ignorirt. Lucile soll in der nächsten Zeit debütiren, und dem muß ich um jeden Preis zuvorkommen –“

„Tanzt das Mädchen gern?“ warf die Frau Majorin trocken ein.

„Ja, leidenschaftlich gern. Aber sie will der eigenen Lust am Beruf, dem Ruhm und Glanz einer solchen Laufbahn entsagen um meinetwillen“ – seine Stimme sank und nahm den Klang unendlicher Weichheit und Zärtlichkeit an – „Du kannst darnach ermessen, wie lieb sie mich hat, Mama.“

Ein anspruchsvolles, spöttisches Kopfnicken der Majorin war die Antwort.

„Und die ausbeutelustige Mama in Berlin hat, wie mir allmählich klar wird, keine Ahnung von diesen beglückenden Plänen und Wünschen?“ fragte der Rath.

„Nein,“ antwortete Felix gepreßt – es lag so viel aufreizender Hohn in jeder Bewegung, jedem Ton des Inquirirenden. Dennoch bezähmte er sich und setzte hinzu: „Ich muß als ehrlicher Mann erst feststellen, was ich Madame Fournier’s eigenen Plänen und den Bewerbungen des anderen Freiers gegenüber in die Wagschale legen darf.“

„Nun darüber kannst Du doch unmöglich im Unklaren sein,“ sagte der Rath. „Ich dächte, Deine Besoldung als Referendar ließe sich unschwer beziffern – sie dürfte just ausreichen, um Mademoiselle Fournier’s Stecknadelbedarf zu bestreiten.“

Eine Flamme der Entrüstung, der zornigen Scham schlug über das Gesicht des jungen Mannes hin, aber noch hielt er an sich.

„Ich bin entschlossen, aus dem Staatsdienste zu scheiden und mich hier in der Stadt als Notar niederzulassen –“

In diesem Augenblicke legte sich die Hand der Majorin schwer auf seine Schulter, und noch nie hatte ihm die Stimme seiner strengen Mutter so unerbittlich, so vernichtend geklungen, wie jetzt, wo sie sagte:

„Besinne Dich, Felix! Ich vermuthe, Du sprichst im Fieber. Um die Nebel in Deinem Kopfe gründlich zu zerstreuen, will ich Dir souffliren, was Du dieser Madame Fournier, die ein Haus macht wie eine Fürstin, die eine hochadlige Partie für ihre Tochter zurückweist und millionenfachen Reichthum von den Balletsprüngen ihrer Schülerin erwartet, der strengen Wahrheit gemäß zu sagen haben wirst: ,Ich habe keine Carrière vor mir, besitze keinen Heller eigenen Vermögens und muß von dem leben, was mir meine Clienten einbringen. Ihre Prinzessin Tochter wird die Kochschürze umbinden und wohl oder übel schadhafte Wäsche ausbessern müssen; ihre gesellschaftlichen Talente kann sie bei mir nicht verwerthen; denn die gute Stube eines unbemittelten Notars ist kein Empfangssalon, in welchem sich hochgräflicher Besuch einzufinden pflegt – meiner Mutter aber darf ich sie nie vor die Augen bringen.’“

„O Mutter!“ rief der junge Mann.

„Mein Sohn,“ fuhr sie fort, ohne den Aufschrei von Schmerz und Qual zu beachten, „Du wünschtest vorhin reich, sehr reich zu sein, und, wie ich jetzt verstehe, hattest Du allen Grund dazu, denn ein ‚fürstlicher’ Haushalt braucht Batzen. Du meinst nun, das Vermögen Deiner Mutter falle bedeutend in die Wagschale, und darin hast Du vielleicht nicht ganz Unrecht, aber dieses Vermögen ist Pfennig um Pfennig, Groschen um Groschen von einer braven, ehrlich arbeitenden Familie drei Jahrhunderte hindurch sorgfältig aufgesammelt worden, und das sage ich Dir“ – sie hob die Rechte, und ihre ebenmäßige, hohe Gestalt reckte sich in unerbitterlicher Strenge imponirend auf – „ehe ich das Vermächtniß meiner Familie in einer liederlichen Theaterwirthschaft verprassen lasse, eher vermache ich es bei Heller und Pfennig an den Namen Wolfram zurück – darnach richte Dich!“

„Das ist Deine endgültige Entscheidung, Mutter?“ fragte der Sohn mit blassen Lippen, und seine schönen blauen Augen blickten wie erloschen.

„Meine endgültige Entscheidung. Schlage Dir das Mädchen aus dem Sinne. Du mußt es können – das sage ich Dir ein- für allemal. Ich will nur Dein Bestes – später wirst Du mir’s danken.“

„Für zerstörtes Lebensglück dankt man nicht,“ versetzte er, und jetzt erhob sich seine Stimme in unaufhaltsam hervorbrechendem Groll zu einem allmählich anwachsenden Sturm, den er selbst nicht mehr zu beschwören vermochte. „Schütte Du Deine Capitalien immerhin dem kleinen Wolfram in die Wiege! Sie sind Dein Ererbtes; Du kannst damit schalten und walten, wie es Dir beliebt. Dagegen hast Du Deinen Einspruch in meine Herzensangelegenheit verwirkt. Du greifst stets egoistisch in mein Leben ein, als sei ich Deine Sache, ein Gegenstand ohne Blut und Leben, ein Stück Wachs, das Du im Wolfram’schen Geiste beliebig ummodeln könntest. Du hast einst meinem Schicksalsgang eigenmächtig eine Wendung gegeben, die ich einen unverantwortlichen Raub nenne. Ich war damals ein Kind, das an Deiner Hand mitgehen mußte, wohin Du es führtest. Jetzt aber habe ich meinen eigenen Willen – ein zweites Mal lasse ich mich nicht in unmenschlicher Grausamkeit berauben.“

„Jesus!“ stöhne die Majorin auf, als habe sie einen Todesstoß erhalten. Sie hatte eine halbe Wendung, wie zur Flucht, nach der Thür zu gemacht – dort stand sie mit unwillkürlich erhobenen Händen und starrte voll Entsetzen nach dem Sohn zurück. Dem Rath aber lief eine dicke Zornader über die Stirn hin; er ergriff den jungen Mann am Arme und rüttelte ihn in brutaler Weise.

„Was ist das für eine Sprache, Du armseliger Bursch!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_263.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)