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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Zur Säcularfeier von Goethe’s Iphigenie.
Ein Erinnerungsblatt zum 6. April.


Mit dem 7. November 1775, dem Eintritt Goethe’s in Weimar, begann jener bedeutsame Zeitabschnitt im Leben unseres Dichters, welchen man mit dem Namen Genieperiode bezeichnet. Heute feiern wir die Erinnerung an die Entstehung der edelsten, herrlichsten Frucht jener Tage, der harmonisch-vollendetsten dramatischen Dichtung Goethe’s, seiner „Iphigenie“.

Unter überschäumenden Freuden und Tollheiten, unter vielfachen Hoffestlichkeiten und anderen Zerstreuungen, unter ernsten Amtsgeschäften, den „unzähligen Plackereien seiner Ministerschaft“, unter umfassenden Studien und mannigfachen poetischen Arbeiten waren die ersten drei Weimarischen Jahre verflossen, doch weder jenes Leben noch diese künstlerischen Productionen konnten dem Dichter, der in den Jahren der schönsten Entfaltung seines Genies stand, genügen. Beim Eintritt in sein dreißigstes Lebensjahr hatte er „wundersam Gefühl und Veränderung mancher Gesichtspunkte“ empfunden. Unter dem Einflusse der Frau, deren Beziehungen zu ihm so verhängnißvoll für sein Leben werden sollten, der Frau Charlotte von Stein, und mit eigener unermüdlicher Selbsterziehung hatte der leidenschaftlich stürmische Dichter allmählich mehr und mehr Mäßigung und Beruhigung gewonnen. Zu Mannesernst sich erhebend, that er, wie er in seinem Tagebuche selbst bekennt, stille Rückblicke auf das Leben, auf die Verworrenheit der Jugend, und erkannte, wie doch des Thuns und des zweckmäßigen Denkens und Dichtens so wenig gewesen sei. Die Pyramide seines Daseins, deren Basis gegründet war, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen, diese Begierde überwog (wie er an Lavater schrieb) alles Andere, und er fühlte, daß er nicht säumen dürfe.

Auf den Standpunkt einer geläuterten Lebens- und Kunstanschauung getreten und, wie bei seiner genialen Dichtung „Proserpina“, in antiken Geist und antike Kunst sich vertiefend, schritt er zur Ausführung der Idee der „Iphigenie“, mit welcher er sich bereits seit einigen Jahren getragen. Jenes Monodrama „Proserpina“, welches er später (nach seinem eigenen Geständniß „freventlich“) in die Posse „Die Empfindsamen“ einschaltete, hatte er für die große Künstlerin des fürstlichen Liebhabertheaters, die reizende Corona Schröter, geschrieben, und sie hatte mit ihrer meisterhaften, tief gemüthvollen Darstellung der Proserpina-Mandandane die Intentionen des Dichters zur vollsten, schönsten Verwirklichung gebracht. Den jungen feurigen Dichter und die hellenisch-schöne Künstlerin verband ein von gemeinsamen Kunststudien und Kunstleistungen gefördertes inniges Verhältntiß, das im Jahre 1778 in täglichem Verkehr zu immer herzlicherer, gegenseitiger Liebe wurde. Indem jetzt in Goethe der Plan der „Iphigenie“ zur Ausführung reifte, gestaltete sich dieses neue Drama einerseits – um mich des treffenden Gervinus’schen Wortes zu bedienen – gleichsam zu einer symbolischen Dichtung, in welcher der Dichter, der die Zeit seiner titanischen Unruhe eben überwunden hatte, in der Versöhnung des alten Titanenhauses seine eigene Versöhnung und gewonnene Klarheit besang; andererseits wurde es zu einer poetisch-schönen Verherrlichung der sühnenden und versöhnenden Macht reiner, edler Jungfräulichkeit.

Bei keinem anderen Drama Goethe’s liegt Beginn und Fortschritt der Arbeit so klar vor uns, wie gerade bei „Iphigenie“. An der Hand des von mir („Vor hundert Jahren“, 1. Band, Seite 37 u. flg.) vollständig veröffentlichten Tagebuchs Goethe’s aus der Genieperiode und mit Hülfe seiner damaligen Briefe läßt sich die Entwickelung dieser Dichtung von Tag zu Tag, von Act zu Act verfolgen.

Am Morgen des 14. Februar 1779 begann Goethe dieselbe. „Früh ‚Iphigenie’ angefangen dictiren,“ bekundet seine Tagebuchsnotiz von diesem Tage. Den ganzen Tag brütete er über „Iphigenien“, „daß ihm der Kopf ganz wüst war“. Er ließ sich Musik kommen, „die Seele zu lindern und die Geister zu entbinden“. Unter den mannigfachsten Geschäften und Störungen suchte er in den nächsten Tagen die Dichtung zu fördern, indem er in der obern Etage seines Gartenhauses am Park bald dictirte, bald selbst an jenem einfachen, schmucklosen Stehpult schrieb, das ich als theuere Reliquie bewahre. Aus den Banden der Protokolle und Acten löste sich dort seine Seele nach und nach durch die lieblichen Töne der Musik; durch ein Quartett nebenan in der grünen Stube „rief er die fernen Gestalten leise herüber“. Während er aber „an ‚Iphigenien’ träumte“, mußte er in eben diesen Tagen der Kriegscommission und der Conseilsitzung beiwohnen, mußte die Aushebung der jungen Mannschaft zum Kriegsdienst besorgen und am 28. Februar zur Fortsetzung dieser Geschäfte und zur Straßeninspection eine Reise nach Jena, Dornburg, Apolda, Buttstädt und Allstädt antreten. Doch er nahm die angefangene Dichtung mit. Schon am Abend des 1. März, im Jenaer Schloß, konnte er sie still fortsetzen, und in den folgenden Tagen, bei seinem Aufenthalt in Dornburg,“ dem reizenden Punkte des Saalthals, „sperrte er sich in das neue Schloß, um an seinen Figuren zu posseln“, und freute sich, daß das Stück „sich formte und Glieder kriegte“. Während der nächsten Tage, bei Rekruten-Aushebung, Kinderlärm und Hundegebell zu Apolda, kam er aus aller Stimmung; dort war kein Heil, und an Freund Knebel, dem er die Rolle des Königs Thoas zugedacht hatte, schrieb er von dort den originellen Brief:

„Ehrlicher alter König, ich muß Dir gestehen, daß ich als ambulirender poëta sehr geschunden bin, und hätte ich die paar schönen Tage in dem ruhigen und überlieblichen Dornburger Schlößchen nicht gehabt, so wäre das Ei halb angebrütet verfault.“

Auch in Buttstädt wieder Mannschafts-Auslesung, dann aber stieg Goethe „in seine alte Burg der Poesie und kochte an seinem Töchterchen“, und in Allstädt, am 9. bis 11. März, war es ihm, nachdem die täglichen Straßenbesichtigungen und Rekruten-Aushebungen vorüber waren, am Abend vergönnt, die fertigen drei ersten Acte „zusammenzuarbeiten“. Nach Weimar zurückgekehrt, las er schon am 13. März dem Herzog Karl August und dem gemeinsamen Freunde Knebel diese drei ersten Acte vor und besorgte schon Tags darauf Abschrift der Rollen. Am 15. März sandte er an Knebel die drei ersten Acte, um sie Herder und von Seckendorf mitzutheilen. Er selbst ritt, abermals in Wege- und Militärangelegenheiten, am 16. März nach Ilmenau und besuchte die ihm so lieben Punkte der dortigen Umgegend. Auf einem der schönsten, hoch oben auf dem Schwalbenstein, weilte er am 19. März allein und schrieb in tiefster Waldeinsamkeit, bei Waldesrauschen und Vogelsang, den hochpoetischen, erschütternden vierten Act.

Nach der Rückkehr in sein trauliches Gartenhaus zu Weimar dichtete er dort den fünften Act und beendigte, während er laut seines Tagebuchs „diese Zeit her wie das Wasser klar, rein und fröhlich war“, am Abend des 28. März sein Drama „Iphigenie“.

Schon am folgenden Tage las er es in Tiefurt vor, und die Wirkung war eine tiefergreifende. War und ist es auch nicht im antiken Geiste der Euripideischen Iphigenie gedichtet, zeigt es vielmehr vielfach eine moderne, echt deutsche Gefühlsanschauung, ein Vorwalten der Empfindung, so leidet Goethe’s Drama doch andererseits auch nicht an den Fehlern des großen griechischen Dichters und ist menschlicher, sittlicher. Mit edler Kunst, die den Geist des Alterthums in idealer Reinheit und Schöne sich anzueignen sucht, feiert es die sühnende Macht reiner schöner Menschlichkeit in antik einfacher Handlung, in vollendetster harmonischer Einheit und ist, wie Schiller es bezeichnete, ein seelenvolles Product voll Milde und Friede. Und war auch diese wundervolle Dichtung damals in Prosa geschrieben, so floß doch diese Prosa so melodisch, daß bereits die Verse hindurchklangen; sie gefiel den weimarischen Freunden des Dichters sogar besser, als die spätere poetische Umgestaltung.

Rasch schritt man zur Vorbereitung der Ausführung. Goethe selbst übernahm die Rolle des Orest, Prinz Constantin die des Pylades, von Knebel die Rolle des Königs Thoas, Seidler die des Arkas; die Rolle der Iphigenie aber übernahm sie, die Meisterin in Darstellung heroisch-tragischer Rollen, die Künstlerin von echter jungfräulicher Hoheit, die den Dichter zum reinen Ideal der Priesterin Diana’s begeistert hatte, die ihm bei der Dichtung vorgeschwebt, die ihm Farben und Züge geliehen, für die er seine Iphigenie gedichtet hatte: Corona Schröter.

Schon am 6. April 1779, dem Osterdienstag, nur neun Tage nach Vollendung der letzten Scene, sollte die Aufführung in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_250.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)