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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

und auf dem Holzgeländer trockneten Getreidesäcke und Pferdedecken.

Der überhängende Gang verfinsterte den Hof und ganz besonders die Stube, vor deren Fenstern auch noch eine uralte Rüster ihren mächtig entwickelten Wipfel ausbreitete. In diesem grüngefärbten, ungewiß hereinfallenden Licht stand das Nähtischchen, und hier hatte die stille Frau Räthin die Erholungsstunden ihres an Liebe so karg bemessenen Ehelebens verbracht. Das Krähen und Gackern des Hühnervolkes auf der Düngerstätte, die Brummstimmen der Kühe von den Ställen her, die Hantirung der ab- und zugehenden Knechte und Mägde – das war das Lebensgeräusch für die Einsame gewesen.

Felix erinnerte sich noch, daß sie eines Sonntag-Nachmittags die Korbwanne mit ihrem schlafenden Töchterchen neben sich gestellt hatte, in der Meinung, ihr gestrenger Eheherr sei ausgegangen. Da war der Rath plötzlich eingetreten. Die Frau war jäh emporgefahren, die Gluth des Ertapptseins auf dem blassen Gesicht; Fingerhut, Scheere und Nadelbüchse waren auf die Dielen gepoltert, und der finstere Mann hatte mit einem halben Blick nach dem Korbbettchen beißend gesagt, hier sei sein Eßzimmer und nicht die Kinderschlafstube.

An diesen Vorfall wurde Felix beim Eintreten lebhaft erinnert; denn fast auf derselben Stelle schlief jetzt auch ein Kind, aber nicht in der primitiven Korbwanne, zwischen buntgewürfeltem Bettzeug – ein elegantes Wiegenbettchen stand da; grüne Seide spannte sich über das Verdeck, und ein langer grüner Schleier fiel über die kleine, flockenweiche und weiße Bettdecke. Und am Nähtisch, auf dem Platz der sanften, schlanken Frau, saß eine vierschrötige Person, mit dem bäuerischen Kopftuch über dem dummdreisten, strotzenden Gesicht, und strickte an einem groben Strumpfe. Sie erhob sich nicht von ihrem Sitze, als der junge Herr eintrat, und fuhr fort, mit der Fußspitze die Wiege zu schwenken – sie war sich wohl bewußt, daß die Amme augenblicklich die Herrschende auf dem Klostergute sei.

Felix hätte gern einen Blick durch den Schleier geworfen, um das Gesicht des kleinen schlafenden Vetters zu sehen, allein der Anblick des Frauenzimmers auf dem Platze der verstorbenen Tante empörte und verletzte ihn. Er setzte sich schweigend an den Eßtisch und zog ein Lederetui aus der Tasche, das er öffnete, um ein zusammengeklapptes Eßbesteck von Silber herauszunehmen.... Das war das einzige von den Lucians herstammende Stück, das die erzürnte, unversöhnliche Frau aus dem Königsberger Hausstand mit heimgebracht hatte, das Pathengeschenk des Großvaters, des längstverstorbenen Oberst Lucian, für seinen Enkel Felix, den er selbst aus der Taufe gehoben. Das Etui war seitdem in der dunkelsten Ecke des Silberschrankes droben im Giebelzimmer verblieben. Bei seinem letzten längeren Aufenthalt auf dem Klostergute aber hatte der junge Eigenthümer durch Zufall das geflissentlich verborgene großväterliche Geschenk entdeckt; er hatte es sofort mit heimlich aufjauchzendem Herzen wiedererkannt und, trotz des mütterlichen Protestes, als sein Eigen reclamirt.

Nun schob er das einfache, holzstielige Besteck des Hauses beiseite und legte das silberne auf die hingebreitete Serviette.

In diesem Augenblick trat die Majorin ein. Sie trug ein gebratenes Hähnchen und den Gurkensalat auf einem Präsentirbrett und war eben im Begriff, einen gewärmten Teller vor ihren Sohn niederzusetzen, als ihr Blick auf das Silberbesteck fiel. Sie wurde dunkelroth im Gesichte und blieb regungslos stehen.

„Nun, ist Dir unser Eßzeug nicht blank oder stolz genug?“ fragte sie kurz, wie mit zugeschnürter Kehle.

„Das nicht, Mama,“ versetzte der junge Mann und legte mit einem fast zärtlichen Gesichtsausdruck die Hand auf den Messergriff, der den groß eingravirten Namen Lucian trug, „aber ich bin so glücklich, etwas aus der alten Zeit im Gebrauch zu haben – von diesem Andenken trenne ich mich nie. Ich weiß noch genau, wie er aussah, mein schöner, stolzer Großpapa, obgleich ich nicht viel über vier Jahre alt gewesen bin, als er gestorben ist. Der Papa –“

Ein Schmettern und Klirren machte ihn emporfahren; zugleich erschrak er über sich selbst; denn zum ersten Male nach vieljähriger, von der strengen Mutter ihm auferlegter Selbstbeherrschung war ihm wie unbewußt das theure, seinem Gedankengang so geläufige Wort „Papa“ über die Lippen geschlüpft – und nun stand sie vor ihm, die Zürnende, mit funkelnden Augen; aus dem eben noch roth überflammten Gesicht war jeder Blutstropfen gewichen, und die jäh aufzuckende Hand hatte unwillkürlich den Teller zu Boden geschleudert. Die Amme kreischte auf, und das Kind in der Wiege stimmte aus Leibeskräften ein.

„Aber, Frau Majorin, wenn das jetzt der Herr Rath wüßte! Veitchen kann ja Krämpfe kriegen vor Schrecken,“ sagte die Amme in frech zurechtweisendem Ton und nahm das schreiende Kind aus dem Bettchen.

Zum höchsten Erstaunen des Sohnes erwiderte die stolze, strenge Frau keine Silbe. Sie half den Schreihals beruhigen; dann raffte sie die Scherben von den Dielen auf und ging hinaus in die Küche. Felix wußte, wie heiß sein Onkel und auch seine familienstolze Mutter einen directen Erben des Wolfram’schen Namens ersehnt hatten, aber er ahnte doch nicht, welche Macht dieser kleine Junge im Wickelkissen auf dem Klostergute war. – Der junge Mann starrte mit einem heimlichen Schrecken nach dem borstigen schwarzen Haarbüschel, der unter dem verschobenen Mützchen hervorkam.

Hätte die Frau Räthin, die ihre fünf kleinen Mädchen, eines wie das andere, mit kornblumenblauen Augen aus zarten Schneewittchen-Gesichtern angesehen hatten, in ihr irdisches Heim zurückblicken können, sie wäre jedenfalls sehr betroffen gewesen über das zigeunerhafte Kerlchen, zu welchem sich der mit ihrem Leben erkaufte Sohn entwickelte – ein braunes, faltig mageres Gesichtchen zwischen weit abstehenden Ohren, und lange, dürre Fingerchen, die wie Spinnenfüße auf dem weißen Steckkissen krabbelten – das war der Erbe des Klostergutes.

„Schlaf’, Kindlein, schlaf’ – schlaf’ sanfter als ein Graf!“ sang die Amme in rucksenden Tönen. Sie ging am Eßtisch vorüber, und den Tact auf das Steckkissen patschend, stieß sie eine Thür auf und marschirte in die anstoßende Stube. Das war das Geschäfts- und Arbeitszimmer des Herrn Rathes – es that sich auf wie ein weiter Saal, und sein mächtiges Bogenfenster ging auf den Vorderhof.

Das Kind war still, und die Amme schlug drüben den Fensterflügel zurück und rief den draußen beschäftigten Knechten plumpe Witzworte zu – das war nun etwas ganz Unerhörtes auf dem Klostergute. So schlicht bürgerlich auch der Zuschnitt des gesammten Hausstandes war – das Gesinde wurde in strenger Zucht, in sclavischer Demuth, fast wie Leibeigene, zu Füßen der Herrschaft niedergehalten; die Wolframs verstanden es, sich in Respect zu setzen.

Die Majorin, die inzwischen wieder hereingekommen war und einen anderen Teller auf den Tisch gesetzt hatte, streifte mit einem Seitenblick das Fenster, an welchem es so geräuschvoll zuging, aber sie sagte kein Wort. Die gleichmütige Ruhe, die ihr schönes Profil wieder angenommen, erschien dem Sohne heute zum ersten Male unnatürlich und unheimlich – er wußte seit wenigen Augenblicken, daß alle Nüchternheit und Besonnenheit, aller Schutt der Alltäglichkeit eine verstohlen glimmende Stelle in der Seele seiner Mutter nicht zuzuschütten vermochten; ein einziges Wort hatte Flammen aufschlagen lassen.

Dem Eßtisch gegenüber wölbte sich der plump gemeißelte steinerne Rundbogen einer Thür; hinter ihr, durch die klafterdicke Mauer hindurch, hatte einst eine Treppe nach dem erhöhten Parterre, in den Corridor des Säulenhauses geführt; sie war der Verbindungsweg zwischen der Klosterküche und den Speisesälen des Hospizes und überhaupt der einzige gewesen, der die zwei Häuser mit einander verbunden hatte. Bei der Theilung des Klosterbesitzes war der Thürbogen in seiner ganzen Tiefe massiv vermauert worden, die praktischen Wolframs aber hatten ein wenig Raum als flachen Wandschrank hinter der Thür belassen. Diesen Schrank schloß die Majorin jetzt auf. Die Haushaltungsbücher lagen drin, und auf dem schmalen Regal stand ein lackirter Blechkasten – da hinein floß der Erlös für Geflügel und dergleichen, sowie das Milchgeld.

Felix sah mit verfinstertem Gesicht zu, wie seine Mutter eine derbe Ledertasche vom Gürtel nahm und den Inhalt, lauter kleine Münzen, in den Kasten schüttete. Sie mußte also jetzt auch, wie vordem die arme Frau Räthin, am Schanktisch stehen und die Milch nöselweise verkaufen; sie mußte das verlangte Geflügel in Hühnerstall und Taubenschlag zusammensuchen und den fremden Köchinnen im Gemüsegarten Salat und Kohlrabi abschneiden und sich die Groschen und Pfennige dafür in die Hand zählen lassen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_246.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)