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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Dramen Shakespeare’s, Schiller’s, Goethe’s (ohne den „Faust“), Lessing’s, Kleist’s und einige Lustspiele Molière’s, ferner auf: „Erbförster“ von Ludwig, „Bluthochzeit“ von Lindner, „Sixtus“ von Minding, „Ahnfrau“ und „Esther“ von Grillparzer, außerdem auf einige Dramen von Ibsen und Björnson.

Eine der trefflichsten Leistungen der Meininger ist die Aufführung von Shakespeare’s „Julius Cäsar“. Wohl wenige haben, bevor sie die Meininger gesehen, eine so harmonische Totalwirkung dieses grandiosen Stückes, namentlich aber einen so überzeugenden Verlauf von Massenscenen für möglich gehalten, wie er uns hier vorgeführt wird. Wie lächerlich erschien sonst im „Julius Cäsar“ (und anderen mit Massen wirkenden Stücken) die schläfrige Betheiligung der Statisten, die als Pseudo-Römer ihr Phlegma bewahrten und gleich Landleuten bei Volksfesten sich über die Scene schoben! Wie automatisch schlugen sie bei Kampfscenen um sich! Ganz anders zeigt sich bei den Gehülfen der Meininger Leben und Bewegung. Man denke z. B. an die große Forumscene im dritten Acte des „Julius Cäsar“, in welcher Antonius seine rhetorischen Knalleffecte von der Tribüne schleudert und die Menge zur Wuth aufstachelt! Unzählige Hände strecken sich nach dem Testament des ermordeten Abgotts aus. Bei der Enthüllung der Leiche Cäsar’s erfüllt Jammergeheul und Wuthgeschrei das Haus. Die Einen starren von Schrecken gelähmt auf die Todeswunde; Andere stoßen Flüche und Verwünschungen aus; wieder Andere knieen und weinen – überall Stimmung und Leidenschaft, realistische Wahrheit und situationsgerechter Ausdruck! Das ist die auf unserem Bilde wiedergegebene Scene – einem Bilde, welches nach einer auf unsere Bitte uns freundlichst gewährten trefflichen Skizze von der Hand des Herzogs Georg durch unsere Künstler fesselnd und sauber ausgeführt wurde. Alles ist getreu nach dem lebenden Bilde auf der Bühne festgehalten, sowohl die Gruppirung wie auch der landschaftliche Reiz des Hintergrundes und der Architektonik.

Verdient „Julius Cäsar“ als das eigentliche Prachtstück der Meininger bezeichnet und bewundert zu werden, so trägt unter den weiteren Tragödienaufführungen besonders die der „Räuber“ den Stempel der Originalität und künstlerischer Selbstständigkeit. Da ist nur wenig von der traditionellen Text- und Geistesverstümmelung geblieben, und das sensationelle Stück erscheint gleichsam wie neugeboren. So erst hören wir den jugendlich stürmischen Dichter in seiner Eigenart und werden durch die Uebereinstimmung aller szenischen Mittel in die richtige Zeit, in die gährende Zeit der Vorrevolution versetzt. Seit Schiller’s Tagen waren die Meininger die Ersten, welche das Drama im möglichst unverkürzten Text des Dichters und im zeitgemäßen Colorit, auch in der richtigen Tracht des achtzehnten Jahrhunderts vorführten.

Ebenso haben es die Meininger verstanden, „Ein Wintermärchen“, „Fiesco“, „Tell“ und „Esther“ zu vollster und schönster Wirkung zu bringen, und wie sie den Lustspielton in der Gewalt haben, zeigten „Was Ihr wollt“ und „Der eingebildete Kranke“ – wahre Cabinetsstücke drastischer Darstellung, wie sie mit solcher lachreizenden Lustigkeit wohl nirgends vorgeführt werden. Bei fast allen diesen Aufführungen schadet es dem Totaleindrucke nicht allzu viel, wenn hier und da das Bestreben, malerisch zu gestalten und zu wirken, etwas zu absichtlich und berechnet erscheint. Auch die Uebertreibungen, z. B. das zu anhaltend fiebernde Geberbenspiel in Volksscenen, und manche zu naturalistische Einzelheiten werden immer nur als nebensächliche Mängel gelten können.

Siegreich haben die Meininger bei ihren Gastspielen das an manchen Orte verbreitete Tadelsvotum bekämpft, daß sie nur mit untergeordneten Talenten sich behelfen müßten und genialere Künstler gar nicht in ihre Rahmen paßten. Wohl würden manche Directionen sich beglückwünschen, wenn sie einzelne von den sogenannten „untergeordneten“ Talenten der Meininger für sich acquiriren könnten. Es brauchen nur die Leonore (im „Fiesco“) des Fräulein Pauli, die Toinette des Fräulein Habelmann, der Tell und der Antonius des Herrn Nesper, der Casca des Herrn Kober, der Stauffacher und der Junker Tobias des Herrn Hellmuth-Bräm, der Leontes des Herrn Nissen, der Autolykos des Herrn Teller hervorgehoben zu werden. Finden sich unter ihnen auch keine zweiten Devrients, Dawisons, Dessoirs oder Dörings, so und sie doch fast alle tüchtige denkende Künstler, die ihre Mittel so gut verwenden, wie manche größere Talente es selten thun. Wird das Publicum durch die Gelungenheit und Harmonie des Ensembles über das Können der Einzelnen getäuscht, so ist es eben ihr Verdienst, so gut täuschen zu können. Während bei anderen Bühnen oft auf glanzvolle Virtuosenleistungen zu viel Werth gelegt wird und diese Bravourspieler die Mängel der Nebenrollen und des Ganzen zu verdecken haben, müssen sich bei den Meiningen die begabteren Künstler dem Hauptzwecke unterordnen und dem trefflichen Ensemble eingliedern, dagegen werden die schwächeren Kräfte zu höherer Leistungsfähigkeit emporgehoben. Dadurch entsteht das, was man harmonische Totalwirkung nennt, und diese ist der wohlverdiente Triumph der Meiningischen Regie. Das Rollenmonopol ist abgeschafft, und so werden die Künstler durch die freie Concurrenz aller Begabten immer mehr gespornt und verfallen nicht der Einseitigkeit und Selbstgefälligkeit. Jeder Einzelne fühlt sich durch die Bedeutung und die Steigerung der Erfolge des ganzen Instituts gehoben, ähnlich den Mitgliedern einer Symphoniecapelle, der es nur auf einheitliche Wirkung ankommt und die deshalb kein Vordrängen der einzelnen Künstler duldet, aber doch von Jedem höchste Sorgfalt verlangt.

Was die Meininger an Ausstattungsreizen darbieten, – um noch einmal darauf zurückzukommen – erweckt überall Beifallsstürme. Früher sah man ähnliche Pracht nur in Feerien, Zauberpossen und sonstigen dramatisirten Panoramas, und man war daran gewöhnt, classische Stücke nur in dürftigem Gewande zu schauen. So herrliche Scenenbilder, wie z. B. der Garten am Hause des Brutus, Genua im Morgensonnenschimmer, das Zimmer Olivia’s („Was Ihr wollt“), der Königssaal in „Esther“, die Rütliscenerie mit Mondregenbogen, im „Wintermärchen“ die Gerichtsscene und die Belebung der Statue (Hermione) und andere, müssen Jedem unvergeßlich bleiben. Aber auch sie sind nur deshalb von so tiefem, nachhaltigem Eindruck, weil sie so stimmungsvoll mit der Totalwirkung der Darstellung und der Dichtungen verknüpft sind. Sie mögen luxuriös erscheinen, sind aber doch kein Luxus, weil sie Mittel zum großen Zwecke sind. Was Goethe (Wilhelm Meister) vom Schönen überhaupt sagt: „Das Schöne muß befördert werden, denn Wenige nur stellen’s dar und Viele bedürfen’s,“ das gilt auch für die Schönheitsbefriedigung im Einzelnen. Man muß über so wesentliche Fortschritte in der Ausstattungskunst froh sein und es willkommen heißen, daß ein so feiner Geschmack, so gediegene Studien über alle Bühnenrequisiten zum Besten großer Dichterwerke verwertet wurden. Werden doch auch für die mit allen Finessen ausgestatteten Musikdramen Wagner’s alle Vortheile und Hülfsmittel der Neuzeit ausgebeutet. Dort wäre so minutiöse und großartige Ausschmückung weniger nöthig, da ja die Musik an sich schon viel unmittelbarer und mächtiger wirkt, als im Drama das gesprochene Wort.

Ob die Meininger einen bedeutenden und epochemachenden Einfluß auf andere Bühnen ausüben, wie viel oder wie wenig sie zu einer Reform der deutschen Bühnenkunst beitragen werden, das läßt sich gewiß noch nicht absehen oder prophezeien. Jedenfalls haben sie sehr vielen Einsichtigen unserer Zeit genug gethan. Sie haben edlen Bühnenwerken zu lebensvollster Wirkung verholfen, Pietät gegen unsere großen Dichter bekundet, und somit auch die Poeten der Gegenwart lebhaft angeregt und ermuthigt; denn sie haben gezeigt, wie nachhaltig Bühnenstücke in guter Durchführung auf das Volk wirken. Sie haben dargethan, daß eine harmonische Totalwirkung das erstrebenswertheste Ziel der Bühnenkunst ist, haben in ihrer Disciplin, in ihrem Fleiß und besonders in einer rationellen Regie das beste Vorbild in neuester Zeit geliefert. Wollen also Andere gleiche oder noch größere Wirkungen erreichen, so mögen sie es ebenso ernst mit ihrer ernsten Aufgabe nehmen und mit solchen an sich unserer Ansicht nach berechtigten, jedenfalls zweckentsprechenden Mitteln das Interesse des kunstsinnigen Publicums erwecken, wie die Meininger!

B. S.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_238.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)