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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

des Volkes und der damaligen Zeit; auch fand die Gewaltsamkeit der Krankheit, es fanden ihre dunklen und auffallenden Erscheinungen auf diese Weise eine Erklärung. Man sagte, jenes Gift sei aus Kröten und Schlangen bereitet worden, aus dem Eiter und Speichel der Pestkranken, aus Allem, was eine wilde, verkehrte Einbildungskraft nur Abscheuliches ersinnen konnte. Doch stand man nur mit einem Fuße in den Kinderschuhen der Chemie – zur guten Hälfte stützten sich alle jene Vergiftungsfabeln noch auf Hexereien; diese erst machten jede Wirkung möglich, entkräfteten alle Widersprüche und lösten alle Schwierigkeiten. Bei der Ueberzeugung, daß Giftsalber vorhanden seien, mußte man sie natürlich auch unfehlbar entdecken.

Aller Augen blickten aufmerksam umher, jeder Schritt konnte den Argwohn aufstören. Der Reisende, der von den Bauern außerhalb der Hauptstraße angetroffen wurde, der Unbekannte, welcher in Miene oder Kleidung etwas Unheimliches oder nur Auffälliges zeigte – Beide waren Giftsalber; bei dem Geschrei eines Kindes läutete man Sturm und lief herbei. Die Unglücklichen wurden gesteinigt oder im besten Falle in die Gefängnisse befördert. – In der Kirche des „Heiligen Antonius“ zu Mailand hatte ein mehr als achtzigjähriger Greis auf den Knieen sein Gebet verrichtet und stäubte, ehe er sich setzte, mit dem Mantel die Bank ab. „Der Alte salbt die Bänke!“ schrieen im Chor einige Weiber, die ihm zugesehen. Das Volk in der Kirche stürzt auf den Greis los – man zaust ihn an den weißen Haaren, schlägt ihn mit Fäusten, stößt ihn mit den Füßen und zerrt ihn halb todt hinaus, um ihn zum Richter, in den Kerker, zur Untersuchung zu schaffen. „So sah ich ihn schleppen,“ sagt der Chronist Ripamonti; „wie es geendet, weiß ich nicht; ich glaube kaum, daß er es lange hat überleben können.“

Wieder schwanden Jahrzehnte dahin; der Wahn der Pestsalberei schwand mit der Heftigkeit und der Ausbreitung der Epidemien, – und andere Hypothesen waren bereit, sich an die Stelle der alten zu setzen. In dem niederländischen Städtchen Delft arbeitete Tag und Nacht ein auf sich und sein großes mechanisches Talent angewiesener ungelehrter Mann, um seine von ihm selbst angefertigten Mikroskope auf eine noch unerreichte Stufe der Vollkommenheit zu bringen und damit „verborgene Naturgeheimnisse“ zu entdecken. Im April 1675 kam Anton Leeuwenhoek auf den Einfall, ein Glasröhrchen voll stehenden Regenwassers unter eines seiner Mikroskope zu legen; mit Staunen und Verwunderung erblickte er im Wasser wunderliche Gestalten, Glöckchen, die sich aufblähten und zusammenzogen, Kügelchen, die lebhaft hin und her schossen; er glaubte im ersten Augenblick die lebendigen Atome selbst zu schauen, aus denen schon der alte Demokrit alle Körper bestehen ließ und aus denen auch Philosophen seiner Zeit die Welt erbauten. Bald aber überzeugte er sich, daß er es mit kleinsten Thierformen zu thun habe, die, dem bloßen Auge unsichtbar, in zahlreichen Formen den Wassertropfen beleben. Kaum hatte er seine so überraschenden Beobachtungen bekannt gemacht, als die phantasiereicheren unter den Aerzten seiner Zeit auch schon das furchtbare Räthsel der Pestepidemien durch „mikroskopische Pestfliegen“ erklärt sahen. Aber vergeblich blieb ihr Versuch, in den vermuthlichen Ansteckungsstoffen mit Hülfe der damaligen Mikroskope lebende Wesen wirklich aufzufinden; es wäre ebenso leicht gewesen, die unsichtbaren Pfeile des ferntreffenden Apoll zu erschauen, mit denen ihn die Dichter in seinem Zorn Menschen und Heerden hinstrecken ließen.

Weite Fortschritte hat die Entwickelung des Mikroskops durchmachen müssen, ehe die fast zweihundert Jahre alt gewordene Entdeckung Leeuwenhoek’s eine unmittelbare Verwerthung in der Krankheitslehre fand. Die Pest war inzwischen fast vergessen und unter die todten Krankheiten gerechnet worden. – Wir würden Gefahr laufen zu wiederholen, was unsere Leser in anregender Darstellung vor einigen Wochen gelesen haben,[1] wollten wir hier ausführlicher darüber sprechen, was von Pollender und Davaine zuerst über den Milzbrand, von Chauveau und Klebs über die sogenannten Eitervergiftungen, von Waldeger, von Recklinghausen und vielen anderen, besonders deutschen und französischen Forschern über die Wochenbettfieber, die Diphtherie, die Rose etc. hinsichtlich ihres Zusammenhanges mit kleinen lebenden Organismen, die in den Säften des lebenden Körpers sich vorfinden, ermittelt worden ist. Keinem Gebildeten sind diese Entdeckungen, die Zweifel, von denen sie noch beeinträchtigt werden, und die Hoffnungen ganz fremd geblieben, daß es nach Auffindung noch verbesserter Methoden, nach klarerer Erkenntniß jener unsichtbaren, aber um so furchtbareren Feinde auch gelingen werde, sie immer erfolgreicher zu bekämpfen.

Wir dürfen uns hier zunächst auf den kurzen Nachweis beschränken, daß die Pest alle Hauptcharaktere mit den anderen Ansteckungskrankheiten theilt. So verschieden auch die einzelnen Krankheitsbilder sein mögen, so haben doch alle Epidemien, Cholera, Pest, Typhus, Diphtherie, Pocken, Scharlach, Hospitalbrand, Eitervergiftung und wie sie sonst heißen, gewisse gemeinschaftliche Züge: die Krankheit wird von einem Orte eingeschleppt, wo sie bereits früher herrschte, durch einen Kranken oder durch Gegenstände, die mit einem Kranken in Berührung gekommen. Hat die Ansteckung stattgefunden, so vergeht einige Zeit (bei der Pest nur Stunden, bei manchen anderen Infectionskrankheiten Tage, selbst Wochen), ehe die ausgeprägten Zeichen der Krankheit hervortreten; nach dieser Zeit bricht die Krankheit aus durch gewaltsame Störungen in der gesetzmäßigen Lebenstätigkeit aller Organe, des Gehirns, der übrigen Nervenapparate, der Lungenthätigkeit, des Verdauungssystems etc.; der Kranke leidet eben, als stehe er unter dem Einfluß eines Giftes, welches in seine Säfte eingedrungen. Und wie er selbst durch einen belebten Giftstoff angesteckt wurde, so verbreitet er das Gift weiter; in manchen Krankheiten sammelt sich der Ansteckungsstoff in höchst concentrirter Form in besonderen Pusteln an – wie bei den Blattern –, deren klarer Saft schon in den geringsten Mengen das Blut eines vorher Gesunden wieder vergiften und denselben unter den nämlichen Krankheitserscheinungen zum Erzeuger neuen Giftes machen kann. Beim Hospitalbrande, bei der sogenannten septischen Blutvergiftung genügt, wie beim Leichengift, schon der Hauch, der am Messer des Chirurgen oder des Anatomen haftet, um jede Wunde zu vergiften; für den Milzbrand steht es fest, daß eine Fliege das Gift von einem kranken auf ein gesundes Thier übertragen kann.

Es ist nach Allem, was wir von Merkmalen der Pest kennen lernten, durchaus gerechtfertigt, auch in den Organen und Säften der Pestkranken nach einem mikroskopischen Organismus zu suchen, welcher die Störungen erzeugt und die Krankheit weiter verbreitet. Die große Aehnlichkeit ihrer Erscheinungen mit dem Milzbrande, dessen Bakterien am besten gekannt und ihren Lebensbedingungen nach am sichersten erforscht sind, läßt die Hoffnung nicht zu kühn erscheinen, daß die ersten Blicke, die ein kundiger Forscher durch ein modern vervollkommnetes und mit den neuerdings erfundenen Beleuchtungsvorrichtungen versehenes Mikroskop thut, ihm die Pestkeime in ihrer wirklichen Gestalt enthüllen. „Ist es denkbar,“ fragen wir mit dem Leser, „daß diese ersten Blicke bei der überreichen Gelegenheit in Wetljanka und den anderen Orten bis jetzt nicht getan wurden?“ Leider ja! Durch die Taktik, welche die russische Regierung der Epidemie gegenüber zu beobachten für gut fand, ist diese Gelegenheit, die wichtigsten Beobachtungen zu machen, für’s Erste versäumt worden. Die medicinischen Professoren der Universität Kasan sind fast alle in deutscher Schule gebildet; auch in Charkow sind tüchtige Gelehrte, welche mit Freude ihre Kenntnisse verwertet hätten, um das düstere Geheimniß zu ergründen. Man hat sie nicht an die von ihnen so leicht erreichbaren Orte entsendet – und wir stehen mit Voraussetzungen und Vermuthungen da, wo wir ohne jenen verhängnißvollen Fehler mit voller Erkenntniß stehen könnten.

Allerdings wird auch dann die Arbeit der medicinischen Forschung erst halb gethan sein, wenn, wie es vielleicht demnächst geschieht, Abbildungen des vermuthlichen Pestkeimes durch alle illustrirten Blätter gegangen und Jedermann so bekannt geworden sind, wie die Stäbchenbakterien des Milzbrandes oder die Spirillen beim Rückfalltyphus. Jede Art dieser verhängnißvollen Pilze hat ihre besonderen Lebensbedingungen, eine abweichende Art sich zu verbreiten und ihren Weg in den menschlichen Körper zu finden; jede widersteht mit der ihr eigenen Zähigkeit den Einflüssen, welche die Wissenschaft als bakterientödtende Mittel ausfindig gemacht und erprobt hat. Selbst die Rolle, welche den mikroskopischen Organismen in der Krankheit zufällt, kann noch verschieden gedeutet werden. Es ist denkbar, daß diese Wesen direct durch ihre Thätigkeit die lebenden Theile des Körpers angreifen und zerstören, aber auch, daß sie einen schädlichen Stoff, ein Gift hervorbringen, welches das Leben bedroht. Die erstere mehr mechanische

  1. „Gartenlaube“ 1879, Nr. 4. Vergl. auch Nr. 10.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_215.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)