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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Ungeziefer zerfressen lassen, wird mit schneller Ueberzeugung bereit sein, dort Alles wiederzufinden, was von dieser Seite her für die Pesterzeugung geltend gemacht werden könnte. Hinsichtlich der Nahrung sei es gestattet, folgende Bemerkungen aus des Verfassers „Geographisch-medicinischer Reise um die Erde“ zu wiederholen, welche am kürzesten über diese Frage orientiren: „In den Hospitalberichten über eingeborene Kranke spielen fieberhafte Magendarmaffectionen, Schwindsucht, Scrophulose, Typhen die Hauptrolle. Alle Welt leidet in diesem Lande an Verdauungsbeschwerden, und wie kann es anders sein unter einer so erbärmlichen Bevölkerung, welche sich von ungekochten Speisen nährt, von allerlei schlechter Pflanzenkost, von Käse und schwerem hartem Brod, das außerordentlich arm an stickstoffhaltigen Bestandtheilen und schwer zu verdauen ist. Der Mensch ist hier fast nur Pflanzenfresser; die seltenen Fleischmahlzeiten bestehen aus geschmacklosem, trockenfaserigem, oft auch aus direct verdorbenem Fleisch.“ Für die Anschauung, welche die Pest direct aus derartigen Zuständen hervorgehen ließ, spricht noch Manches: Schilderungen der indischen Pestländer schließen sich in Bezug auf das erbärmliche stumpfsinnige Schmutzdasein der Bewohner sehr nahe an die in Aegypten herrschende Misère an, und die Erfahrung hat auch bei den Wanderzügen der Pest ausnahmslos gelehrt, daß sie da am besten gedeiht und Herrschaft gewinnt, wo die Bevölkerung sich am weitesten vom Ideale eines civilisirten Zustandes entfernt.

Doch hat die Forschung sich nicht der Ueberzeugung verschließen dürfen, daß es auch sehr elende Bevölkerungen giebt, wohl noch weit unter den Aegyptern stehende, welche nie zu der traurigen Berühmtheit gelangt sind, hervorragende Pestgebiete oder gar Stammländer der Pest zu bewohnen. Diese Ueberzeugung hat einige französische Gelehrte dazu gedrängt, Aegypten in einer anderen Beziehung zum Gegenstande ihrer Untersuchungen zu machen. Die hierher von der französischen Regierung im Jahre 1828 entsandte Commission faßte das Zeugniß des Herodot und Strabo in’s Auge, welche das gesunde Klima Aegyptens preisen und seinen Bewohnern ein besonders langes Leben nachrühmen, und hielt einen Gegensatz zwischen jenen alten glücklichen Zuständen und den selbsterforschten für ausgemacht. Es schien ein gänzlicher Umschwung stattgefunden zu haben, und da die von uns angeführte Stelle des Rufus damals noch unentdeckt war, konnte es geschehen, daß man die Pest in derselben Zeit zuerst in Aegypten auftreten ließ, welche für Europa als erste Pestperiode festgestellt war, man nahm das Jahr 543 als das Jahr der ersten Epidemie an. Bei näherem Eingehen stellte es sich nun heraus, daß es sich annähernd genau um den Zeitpunkt handelte, in welchem die Einbalsamirung der Leichen, als eine dem Christenthum widersprechende Einrichtung, abgeschafft und der Gebrauch der Beerdigung allgemein eingeführt worden war. Bedenkt man dazu, daß die Art des Begrabens bei den Aegyptern (zum Theil schon in Folge von Bodeneigenthümlichkeiten) eine sehr mangelhafte war und geblieben ist, daß die Atmosphäre noch heutzutage um die Begräbnißplätze mit den Zersetzungsproducten der verwesenden Cadaver erfüllt erscheint, daß die Secte der Kopten die Leichen sogar in den Wänden und den Fußboden der Wohnhäuser, lose eingemauert, verwesen läßt, so wird man die Beweisführung der französischen Commission begreiflich finden: „So lange die Leichen einbalsamirt wurden, gab es keine Pest; mit Aufhören jener Maßregel erschien die Seuche; mit der gefährlichen Neuerung des Begrabens wurde die gefährlichste aller bekannten Krankheiten geschaffen.“

Es bedurfte der unzweideutigen Mittheilung des Rufus nicht, um die anscheinend so greifbare Hypothese zu widerlegen. Die Voraussetzung, als sei das Einbalsamiren ein Act der öffentlichen Gesundheitspflege und eine auf die ganze Masse des Volkes ausgedehnte Maßregel gewesen, ist falsch. Nimmt man die mittlere Dauer des menschlichen Lebens auf dreiunddreißig Jahre an (für Aegypten übrigens eine entschieden viel zu hohe Ziffer), so stirbt in einem Jahrhundert die dreifache Zahl der mittleren Bevölkerung eines Landes; innerhalb 4000 Jahren wären also in Aegypten 120 Bevölkerungen verstorben: die mittlere Stärke einer Generation zu 7,500,000 Individuen gerechnet, 900 Millionen, welche als Mumien einen Raum beansprucht hätten, weit größer als die Oberfläche von ganz Aegypten. Auch haben noch andere Nachforschungen erwiesen: daß nur die Angehörigen der privilegirten Classen und einige mit dem religiösen Cultus in Verbindung stehende Thiere zur Einbalsamirung gelangten, während im Uebrigen Menschen und Thier vor wie nach der Verwesung anheimgegeben worden sind.

Erweist sich somit jene Folgerung als nicht stichhaltig, so werden wir doch das wichtige Thema der Beerdigungsverunreinigungen sehr fest in’s Auge zu fassen haben. Maßgebende Stimmen haben die Aufmerksamkeit auf das schauerliche Treiben einiger persischen Stämme gelenkt, welche Tausende ihrer Leichen im verwesten Zustande nach besonders heiligen Orten bringen, und die Bedeutung hervorgehoben, welche diese Züge wohl für die Entstehung der diesjährigen Epidemie haben konnten, und wir haben sicher ein volles Recht, dem unheimlichen, widerwärtigen und schädlichen Unwesen, welches niedrigstehende Nationen mit den Leichen treiben, eine ähnliche Bedeutung für das Gedeihen der Pest beizulegen, wie wir sie für eine ärmlich-verkommene Lebensweise in Anspruch nahmen. Auch mag man immerhin beide Uebel aus einer Wurzel entsprossen sich denken; je ärmlicher und dumpfer ein Volk dahinlebt, je roher seine Culturbegriffe sind, desto weniger weiß es zu erfassen, daß die Leiche nichts Unvergängliches mehr enthält, und desto schonungsloser zerrt es den Cadaver in das Reich der Lebenden zurück.

Näheren Aufschluß über die letzte Quelle der Pestkrankheit, die eigentliche Beschaffenheit und Entstehung des Pestgiftes geben die berührten Verhältnisse an sich, wie wir gesehen haben, nicht. Wir kommen vielmehr schließlich zu dem Begriffe des Krankheitsstoffes, zum „Keim“, wie sich die neuen Ansteckungstheorien ausdrücken. Diesen Keim, seine Wirkungen und Lebensbedingungen, sowie seine Verbreitung und seine Zerstörung gedenken wir zum Gegenstande einiger weiterer Erörterungen zu machen.

Dr. A. W.




Land und Leute.


Nr. 40. Die höchste Stadt im Reich.


Das Aschenbrödel unter den deutschen Gebirgen, das sächsische Erzgebirge, trägt die höchste Stadt im Reich auf seinem Scheitel. Dicht an der Grenze des reichen Böhmerlandes, da wo sich der Fichtelberg und der Keilberg wie zwei Riesengräber über das Kammplateau erheben, umgeben von rauhen Schönheiten und selbst eine rauhe Schönheit, liegt an den Gehängen des mächtigen Bergstocks das Bergstädtchen Oberwiesenthal, vom Volksmund kurz das Wiesenthal genannt. Der Ackerbauer hätte wohl nie an dieser Stätte den Pflug eingesetzt, um sie zu colonisiren; was fragt aber der Bergmann nach dauernden Lebensbedingungen? Er gründet Städte, unbekümmert um ihr ferneres Schicksal; wenn der Bergsegen auf die Neige geht, wandert er lustig weiter, wie es der Goldsucher noch heute im fernen Westen thut. So sind im höheren Erzgebirge eine ganze Anzahl Ortschaften entstanden, die wehmüthig der verschütteten Bergzechen gedenken und verlassen auf ihrer Scholle stehen, die sie nicht ernähren kann. Nur angestrengteste Arbeit, Genügsamkeit und ein harter Kampf mit der Natur konnte die künstlich hervorgerufene Existenz solcher Städte und Orte zu einer dauernden gestalten. Dieser Orte höchstgelegener ist die Stadt Oberwiesenthal, und in ihr tritt denn auch der Kampf um’s Dasein in den härteste Formen auf.[1] Wer die höchste Stadt im deutschen Reiche besuchen will, der muß sich entschließen, bei der böhmischen Stadt Weipert die Bahn zu verlassen und sein

  1. Seit Jahren angestellte meteorologische Beobachtungen ergeben für das 119 Meter über der Ostsee gelegene Leipzig eine mittlere Jahrestemperatur von 8,52 Grad Celsius, dagegen muß sich die Station Wiesenthal mit nur 4,75 Grad begnügen. Die Niederschläge betrugen 1870 in Leipzig 577 Millimeter, in Wiesenthal 1104. Zwischen dem letzten und dem ersten Schneefall lagen in Leipzig 209, in Wiesenthal nur 110 Tage. Absolut trübe Tage herrschten über Leipzig 27, über Wiesenthal aber 124.
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