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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Die Hochfluth der Seuche war vorüber; sie beginnt bereits im fünfzehnten Jahrhundert von den erreichten Grenzen zurückzutreten. Wird auch in den Jahren 1409 bis 1430 Rußland, in den schlimmen Jahren 1449, 1460, 1473 Deutschland, gegen das Ende der siebenziger Jahre Italien stark von der Pest befallen, so finden wir doch eine gleichzeitig und gleichmäßig ausgedehnte Verseuchung weder in diesem noch in dem folgenden Jahrhundert wieder, das nur noch zwei größere Pestepidemien (1533 und 1574) aufzuweisen hat.

Im siebenzehnten Jahrhundert beginnt bereits eine definitive Befreiung für einen Theil der früher verseuchten Länder Europas. England, das sich schon frühzeitig durch ein sehr ausgebildetes Sperrsystem zu schützen versucht hatte, übersteht 1665, Irland bereits im Jahre 1650 seine letzte Epidemie. Nordfrankreich und die Schweiz kennen nach 1668, Spanien nach 1681, Schweden und Dänemark sogar nach 1657 keine Pest mehr. Das westliche Deutschland reinigt sich um 1667, ein großer Theil des östlichen von 1682 ab. Auf anderen Punkten ist die Befreiung nur eine scheinbare: mit neuer Kraft stößt der Strom der Seuche noch in den beiden ersten Decennien des 18. Jahrhunderts über die Türkei nach Ungarn und Polen, nach Schlesien, Posen, Preußen, Rußland, nach Steyermark, Böhmen und der Lausitz vor, mit einer verheerenden Welle überschwemmt sie den Süden Frankreichs im Jahre 1721. Dann erfolgt ein weiteres Ebben: Siebenbürgen, Ungarn, Südrußland, Polen, Dalmatien, kurz die der Türkei zunächst liegenden Gebiete stellen sich in dieser Periode (1717 bis 1797) als die Ufer des Pestbezirkes dar. Im Anfange des laufenden Jahrhunderts walten ähnliche Verhältnisse, nur daß das eigentliche Pestgebiet sich immer mehr einengt und nur durch gelegentliche Durchbrüche (nach der Walachei, nach Griechenland, nach Siebenbürgen, den Küsten Italiens) von der Gefährlichkeit seiner Nachbarschaft Beweise liefert. Nach 1830 endlich lernen wir als einzig von der Pest leidende Gebiete noch die europäische Türkei, Syrien und Aegypten kennen und sehen die Bewohner dieser Länder im Streit über den unheilvollen Besitz: die Aegypter behaupten, daß ihnen die Pest stets aus der Türkei und Syrien, und die Syrer, daß ihnen die Krankheit immer aus der Türkei und Aegypten gebracht worden ist. Am heftigsten aber lehnten die Türken es ab, die ursprünglichen Erzeuger und Besitzer der Pest zu sein, und wurden nicht wenig in ihrer Behauptung bestärkt, als nach der Einführung strenger Quarantänen, das heißt seit dem Jahre 1838, die Krankheit auch aus Constantinopel wie aus der ganzen europäischen Türkei spurlos verschwand, während sie in Kleinasien und Aegypten noch mehrere Jahre später verheerend auftrat.

Was – im Hinblick auf unser Eingangs gebrauchtes Bild – das Anschwellen der Pestfluth bis 1346 betrifft, so ist uns in der That der Vorgang desselben fast verborgen. Erst nach langem Streiten ist die Frage über das erste Auftreten der Pest in Europa dahin entschieden worden, daß nicht das Jahr 430 vor, sondern das Jahr 543 nach Christi Geburt als dieser verhängnißvolle Zeitpunkt anzusehen ist: Thucydides beobachtete in jenem Jahre – wie man jetzt allgemein annimmt – nicht die Pest, sondern eine typhusartige Seuche, und erst dem Zeitalter des Kaisers Justinian war es vorbehalten, die Pest in Byzanz kennen zu lernen und sie als neue Krankheit zu beschreiben. Die Ergebnisse der Pestforschung über das siebente bis dreizehnte Jahrhundert aber kommen selbst diesem Resultate auch nicht annähernd gleich. Die Schriftsteller dieser Zeit liefern eben keine naturgetreue Beschreibungen, sondern begnügen sich, die Dauer der Seuche, die Zahl der von ihnen hingerafften Opfer anzugeben und vom Zorne Gottes, von widrigen Constellationen, Erdbeben, Meteoren und ungünstiger Witterung zu erzählen, ohne sich um die Entstehung und Ausbreitung der Epidemien, um ihre Ausgangspunkte und Wege zu kümmern. Dürfen wir nun – so fragen wir weiter – wenigstens in Beobachtung des allmählichen Zurücktretens schließen, daß die verengten Grenzen der jetzt noch übrigen Pestbezirke den Quellboden der ganzen Seuche darstellen? Ein Zufall hat das Rechte geliefert, mit einiger Zuversicht diese Frage zu bejahen, und dieser Zufall war eine Entdeckung in der Bibliothek des Vaticans, welche in das Ende der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts fällt. Der Cardinal Angelo Mai fand dort eine Handschrift des Oribasius auf, in welcher nach Rufus von Ephesus, der im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung lebte, Stellen aus einem alten griechischen Schriftsteller Dionysius (wahrscheinlich 280 vor Christo) angeführt werden. Dieser beschreibt dir Pestbubonen und das hitzige Fieber und bemerkt ausdrücklich, „daß diese Zustände vorzüglich in den Gegenden von Libyen, Aegypten und Syrien entstehen“. So bleibt, wenn wir diesen unbefangenen Worten Glauben schenken wollen, von dem ganzen große Gebiet, auf welchem die Pest geherrscht, nur Kleinasien, Syrien und Aegypten übrig, in denen wir die Heimath der Pest suchen und vermuthen dürfen. Die letzte Pestepidemie in Syrien hatte im Jahre 1841 bis 1842 geherrscht; in Aegypten war die Seuche 1841 noch sehr verbreitet; 1843 beschränkte sie sich auf die Gegenden am östliche Nilarme; seit 1845 schien sie auch hier vollkommen verschwunden zu sein. – Eine eigentümliche fragwürdige Stellung nehmen bis jetzt die indischen Pestbezirke ein. Denn wenn es auch allenfalls zuzugeben ist, daß die Epidemien in Kutch und Sindh, sowie in Pali (dem Hauptstapelplatz für den Handel zwischen der Küste und den nordwestlichen Provinzen von Indien) auf Einschleppung von der Levante aus beruhen könnten, so wird dies von der Pest der an den südlichen Abhängen des Himalaya gelegenen Provinzen Gurwal und Kumaon doch kaum behauptet werden dürfen, und die Vermuthung erscheint nicht ungerechtfertigt, daß auch in den wenig durchforschten Theilen Indiens und Chinas Stammländer der Pest existiren können, die nur deshalb als solche unbekannt geblieben sind, weil sie keine Gelegenheit zur Weiterverschleppung der Krankheit darboten.

Jede auf gewisse geographische Bezirke beschränkte oder nur in bestimmten Zeitabschnitten auffallend herrschende, dann wieder zurücktretende oder ganz verschwindende Krankheit regt in hervorragender Weise den Scharfsinn an, die besonderen Umstände zu erforschen, welche vorhanden sein mußten oder fehlten, um so auffällige Erscheinungen zu erzeugen. Hinsichtlich des Ortes der Epidemien interessiren uns Klima, Lage und Bodenverhältnisse, hinsichtlich der Zeit besondere Wetter- und Erdveränderungen, Völkerwanderungen und die wechselnde Lebensweise der Menschen.

Es stellt sich bald heraus, daß die Wichtigkeit des geographischen und klimatischen Elements bei der Pest eine sehr verschiedene ist, je nachdem es sich um die Stammländer oder um die in zweiter Reihe befallenen Bezirke handelt. Während für die ersteren wichtige Fingerzeige auf gewisse Bedingungen des Klimas und des Bodens hinweisen, bedarf es für die letzteren nur der Einschleppung eines wohlgezüchteten Pestkeimes, um jede dieser Einflüsse als gleichgültig erscheinen zu lassen.

„Nicht die Verschiedenheit des Himmelsstriches, nicht der Süden oder die reine Luft des Nordens, nicht Wärme noch Kälte des Klimas vermögen die entsetzliche Krankheit aufzuhalten. Sie dringt in die Gebirge, wie in die Thäler, in Binnenländer, wie zu Inseln, in Ebenen, wie in hügeliges Gelände; nicht Wald noch See noch Sumpf läßt sie verschont. Sie folgt dem Menschen auf den Wellen des Oceans; sie dringt in Dörfer, Lager und Städte. Vergebens wird die Kälte des Winters herbeigesehnt, die Seuche achtet nicht der Milde des Frühlings, noch der Gluth des Sommers, nicht des Wechsels des Mondes und des Standes der Gestirne, nicht des feuchten Südwindes und rauhen Nords.“ Dies sind die Worte eines der wichtigsten Pest-Berichterstatter, des belgischen Arztes Covino.

Etwas anders liegen, wie bereits angedeutet, die Verhältnisse hinsichtlich des Klimas der Stammländer, besonders Aegyptens. Das Erlöschen der Epidemien fällt hier nach übereinstimmenden Zeugnissen mit dem Auftreten der stärkeren Sommerhitze (22 bis 25 Grad Réaumur) zusammen; niemals hat ferner die Krankheit Assuan (nahe der Grenze von Nubien) überschritten, um in dieses einem tropischen Klima unterworfene Land einzubrechen. Diese beiden Thatsachen sind jedoch die einzigen, welche selbst hier für klimatische Zusammenhänge sprechen; der von älteren Beobachtern behauptete gefährliche Einfluß des Wüstenwindes (Chamsin) ist längst durch Widersprüche in Frage gestellt worden.

In ähnlicher Weise läßt sich für Aegypten eine Eigenthümlichkeit des Bodens ermitteln, welche als pestbegünstigend angesehen werden darf: die Nilüberschwemmungen. Die überwiegend meisten Beobachter sprechen sich dafür aus, daß fast stets durch dieselben herbeigeführte sehr starke Durchfeuchtungen des Bodens der Pestentstehung wesentlich förderlich gewesen sind. Selten und sparsam trat sie in den sandigen Theilen und der Wüste auf; an den Nilufern, in den niedrig und feucht gelegenen Stadtteile Kairos herrschte sie vor. Doch wäre es vollkommen

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