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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

sein. Vorsichtig trat er aus dem Pfade, daß bemooste Felsblöcke und Strauchwerk ihn bald vollständig verbargen. Dort, wo er das Mädchen im Auge behielt, legte er sich nieder. Kurze Zeit nachher unterschied er Schritte, die vom Strande heraufkamen; eine heitere Stimme sandte Kordel einen jubelnden Liebesgruß zu, und schärfer hinüberspähend, erkannte Seiling den festlich gekleideten Bertus, der beim Anblick der Geliebten seine Schritte beschleunigte. Eine kurze Strecke vor Kordel blieb derselbe stehen, und wie von einer tödtlichen Lähmung befallen, starrte er auf sie hin. Kordel hatte sich aufgerichtet und ihm ihr Antlitz zugekehrt. Sie wollte sich erheben, sank aber erschöpft zurück.

„Bertus!“ rief sie, und in ihrer Stimme offenbarte sich ein so tiefes Weh, daß Seiling mit krampfhaftem Griff die Finger in das bemooste Erdreich eingrub, „komm’, Bertus, setze Dich zu mir! Ich ging hierher, um Dich zu erwarten. Fasse Muth, Bertus, sei ein Mann – komm’ – die Treue, die ich Dir gelobt, halte ich, und müßte ich mit Dir vereint auf den Meeresboden hinunter.“

Da belebten des jungen Mannes Züge sich wieder. Als er sich neben Kordel setzte, diese leidenschaftlich ihre Arme um seinen Nacken schlang, ihn weinend küßte und vor heftigem Schluchzen die Worte auf ihren Lippen erstarben, da errieth er freilich, daß seinen Hoffnungen sich Hindernisse entgegenstellten, vor welchen selbst das starke Mädchen zurückbebte. Minuten verrannen, während welcher er seine ganze Beredsamkeit aufbot, die Geliebte zu trösten; er beschwor sie, was auch immer über sie hereingebrochen sei, auf seine Treue zu bauen; er betheuerte ihr, nimmermehr von ihr zu lassen, bis der Tod sie von einander trennen würde. Und als habe bei seinen letzten Worten neue Lebenskraft sie durchströmt, richtete Kordel sich mit einer heftigen Bewegung empor. Ihre Thränen waren versiecht, düstere Entschlossenheit glühte aus ihren prachtvollen Augen, indem sie Bertus fest ansah und seine beiden Hände ergriff.

„Nein, der Tod wird uns nicht trennen,“ sprach sie mit geisterhafter Ruhe; „wenn Du heute noch so denkst, wie damals, als Du das Boot in den Wind hineinsteuertest, so soll er uns vereinigen.“

Bertus starrte auf Kordel, wie den Sinn ihrer Worte nicht begreifend. Er brauchte Zeit, um das, was seine Brust zerriß, in Worte kleiden zu können.

„Du zweifelst?“ fragte Kordel vorwurfsvoll.

„Nein, Kordel!“ antwortete Bertus tief aufathmend, „kann ich nicht mit Dir leben, so kann ich mit Dir sterben, so wahr mir Gott helfe! Aber ich sah Dich an, Deine Augen, Deine Lippen. Ich schauderte bei dem Gedanken, daß Alles das starr werden, das Wasser mit Deinem Haar spielen würde – Kordel – ich will allein gehen; aber Du, Kordel –“

„Meine Arme werden sich um Deinen Hals legen, meine Lippen sich auf die Deinigen pressen, Bertus, und so kann der Tod nichts Schreckliches für uns haben. Nicht heute oder morgen soll es geschehen. Ich muß zuvor wissen, ob es wirklich kein anderes Mittel giebt, meinen Vater der Gewalt des entsetzlichen Klaas –“

„Der Klaas – der Schurke steckt hinter Allem?“ fiel Bertus wild auflodernd ein, und Kordel die rechte Hand entziehend, schüttelte er die Faust drohend in der Richtung nach dem Dorfe.

„Ja, Bertus, er steckt hinter Allem,“ antwortete Kordel. „Was zu Grunde liegt, ich errath’s nicht; es genügt, zu wissen, daß mein Vater ihm unbedingt zu Willen sein muß. Als junge Männer sind sie zusammen gewesen, und aus jenen Zeiten stammt es. Meine Sache ist es nicht, in meinen Vater zu dringen und vielleicht zu sehen, wie er die eigene Tochter scheut. Es mag wohl gar so schlimm sein, daß es Schande über Dich brächte, würde ich Deine Frau –“

„Und hätte Dein Vater eine Sündenlast auf dem Gewissen, daß die ganze Welt vor ihm zurückschreckte, so würde mich das nicht von Deiner Seite verdrängen,“ unterbrach Bertus sie leidenschaftlich. „Du hast Dich mir versprochen, und klebt Unehrliches an Deines Vaters Gut, so laß es fahren! Ich kann für Dich arbeiten –“

„Du denkst rechtschaffen,“ fiel Kordel milde ein, „und darum bist Du mir so fest an’s Herz gewachsen. Ich aber denke nicht schlechter, und deshalb würde ich es nie über mich gewinnen, eine Schande, die an meinem Namen haftet, Dir als Heirathsgut einzutragen. Aber das bekümmert mich jetzt nicht; etwas viel Schlimmeres soll mir jenes Geheimnisses halber angethan werden. Es ist so, wie Du gestern gesagt hast: Klaas begehrt mich zur Frau, und mein Vater hat einwilligen müssen. Ich bin im ersten Augenblick auf die Forderung eingegangen, weil ich mir nicht anders zu helfen wußte. Löse ich mein Versprechen durch den Tod, so kann Klaas meinen Vater schon bei Lebzeiten beerben und hat keine Ursache mehr, ihn zu peinigen. Nur Zeit habe ich mir ausbedungen; wie lange – das weiß ich nicht. Vielleicht findet sich noch Rettung. Geschieht’s nicht, und der Tag ist da – Bertus“ – und düstere Entschlossenheit glühte aus ihren schönen Augen, „dann sorge ich für Deine Mutter durch eine Schrift, in welcher ich ihr Alles schenke, was mir gehört und mir zusteht, und zu Dir komme ich in der Nacht, und auf Deinem Boot segeln wir auf’s Meer hinaus, so weit und so lange, bis Wind und Wetter sich unser erbarmen. Ja, Bertus, das soll unsere Hochzeitsnacht sein, und als rechtschaffene Menschen haben wir gelebt – als rechtschaffene Menschen sind wir gestorben.“

„Aber wie soll da Rettung möglich sein?“ fragte Bertus, und seine Stimme zitterte vor Jammer, indem er Kordel’s Hand zwischen den seinen hielt und bange in ihre großen leuchtenden Augen schaute.

„Ich möchte die Hoffnung nicht ganz aufgeben,“ antwortete sie unendlich milde, und die Gluth in ihren Augen schien zu erlöschen „aber Bertus, wenn alles vorbei ist – noch ist es Zeit; sage offen, möchtest Du Dich Deiner Mutter erhalten? Ich schwöre Dir’s zu, muß ich allein gehen, so geschieht’s mit einem letzten Segenswunsch für Dich.“

„Damit die alte Frau mich langsam hinsterben sieht?“ fuhr er leidenschaftlich auf. „Nein, Kordel, es ist besser, sie übersteht’s auf einmal. Ist’s mit uns Beiden zu Ende, so tröstet es sie, daß wir mit einander gingen – doch laß’ das, Kordel! Nicht von solchen Dingen rede, nicht vom Ueberlegen! Wo Du bleibst, da bleibe ich. Nenne mir die Stunde – suche einen Tag aus, an welchem der Sturm heult und die See’n branden,“ und enthusiastischer strahlten seine Augen, fester, heller klang seine Stimme, „und ich hole Dich zur Hochzeitsfahrt in meinem Boot. Mein Lebelang habe ich mit Stürmen und Windstillen, mit Brandungen und Sturzsee’n gerungen, und ein schöneres Ende giebt’s nicht, als im Salzwasser, welches mich so lange trug. Nein, Kordel, kann’s nicht anders sein, hat die Welt kein Erbarmen mit uns, so wollen wir der Welt aus dem Wege gehen,“ und Kordel umschlingend, zog er sie an sich, und sie herzend und küssend vergaß er Alles, was eben noch seine Seele mit Entsetzen erfüllte. Kordel weinte. Es lispelte in dem bleichen Laub über ihnen und um sie her, es brauste von unten herauf; es knisterte zwischen den dürren Blättern die bereits auf dem Erdboden lagen. Sie hörten es nicht. Sie sahen nicht, wie nur wenige Schritte von ihnen ein wahres Leichenantlitz sich etwas höher hob, zwei geröthete, von starken weißen Brauen beschattete Augen sich in erlöschendem Feuer auf sie richteten und dann hinter den welken Farrenkrautbüschen verschwanden. Eine kaum wahrnehmbare Bewegung folgte zwischen Gras und Gestrüpp. Dann wurde es still. Nur das Laub rauschte vor einem stärkeren Luftzuge über den beiden in tiefem Weh und treuer Liebe sich einander zuneigenden Herzen, und vom Strande herauf drang nach alter Weise das hohle Brausen. –

Als eine Stunde später Bertus sich allein nach seinem Boote begab, um die Heimfahrt anzutreten, hörte er, bevor er den offenen Strand erreichte, seinen Namen rufen. Gleich darauf stand er vor Seiling. In den eigenen Zügen die sprechenden Spuren der jüngsten Erregung tragend, meinte er in dem Antlitz des vor ihm Stehenden eine gewisse würdevolle Ruhe zu entdecken, welche im Widerspruch zu Allem stand, was er über ihn und seine Beziehungen zu Klaas gehört hatte. Ehrerbietig grüßte er. Seiling dagegen, ohne den Gruß zu erwidern, flüsterte ihm zu: „Willst Du die Kordel für Dich retten, so sei um Mitternacht auf dieser Stelle! Ich werde Dich erwarten. Sei vorsichtig! Niemand, nicht einmal Kordel darf die Wahrheit ahnen.“

Bevor Bertus sich von seinem maßlosen Erstaunen erholt hatte, war Seiling hinter dem nächsten Gebüsch verschwunden.

Schwankend, wie durch die unerwartete Kunde berauscht, schritt Bertus über den Strand. Einige Minuten später sah Kordel von der Höhe aus das kleine Segel auf ungestümer See seine Richtung nach der Landzunge hinüber eilfertig verfolgen.

(Schluß folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_176.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)