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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

No. 10. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.


Das Haus in der Schlucht.
Von Balduin Möllhausen.
(Fortsetzung.)


Das Boot tanzte gewaltig auf den rollenden Wogen. Kordel saß noch immer schweigend und düster blickend neben Bertus. Wer hätte errathen, was in ihrem Innern vorging! Am wenigsten kümmerte sie sich um die schwarzen Wälle, welche ringsum aus der grauen Atmosphäre auftauchten und wieder versanken. Unempfindlich gegen Regen und Sturm saß sie da; gleichgültig gegen die Richtung, welche das flinke Boot verfolgte.

„Ich weiß, was Dir im Kopfe herumgeht,“ hob Bertus nach einer langen Pause wieder an, „und ich nehm’s Dir nicht übel, denn ich hab’s verdient. Versprichst Du, daß meine Mutter nicht vergessen sein soll, so versuch’ ich mein Schicksal wieder draußen auf dem Meere; eine gute Heuer finde ich alle Tage auf einem Schiff nach Ostindien, Australien oder wer weiß wohin; mir ist Alles einerlei. Nur ein paar Wochen Zeit gönne mir, damit’s der alten Frau nicht zu plötzlich komme!“

„Thu’, was Du für gut hältst!“ antwortete Kordel.

Sie hatten die Grenze erreicht, auf welcher der um die Landzunge herumsausende Wind die See am tiefsten aufwühlte. Trotzdem rollten die Wogen hier mit größter Regelmäßigkeit, sodaß es Bertus erleichtert wurde, das Boot in einem stetigen Curs zu erhalten. Freilich ging es höher hinauf und tiefer hinab, allein unter der sicheren Faust im Steuer schwand die Gefahr des Kenterns.

„Wie die Nußschale fliegt!“ bemerkte Kordel nach längerem Schweigen; „sollte man nicht meinen, sie wolle in den Himmel hinein?“

„Oder auf den Meeresboden hinab,“ meinte Bertus, wie beiläufig, „aber sei unbesorgt, ’s geht nichts über einen regelmäßigen Seegang. Ein sechsjähriges Kind möchte ihm mit dem Steuer begegnen.“

„Denkst Du auch an die Heimfahrt?“

„Nein; ’s ist keines Gedankens werth.“

Wiederum eine lange Pause. Bertus blickte starr nach vorn, während Kordel seine umschattete Gestalt sinnend von der Seite betrachtete. Beide achteten weder des Sprühwassers noch des Regens, welche unablässig die dem Winde zugekehrten Wangen peitschten.

„Meine Finger erstarren,“ hob Kordel von neuem an, „das Holz ist eisig und naß. Gefällt Dir’s und hindert’s Dich nicht, so schlinge ich meinen Arm um Dich.“

„Es hindert mich nicht, Kordel; sitzest Du fester, so thu’s immerhin!“ antwortete ihr Gefährte so kalt wie die feuchte Bank, an welche sie sich, mit beiden Händen anklammerte.

Kordel zögerte. Vor einer halben Stunde würde der Vorschlag Bertus mit wildem Entzücken erfüllt haben. Jetzt schien er keinen Eindruck auf ihn auszuüben. Eine Minute verrann; dann legte sie ihren Arm um den jungen Seemann, jedoch nicht schüchtern, sondern mit derselben ruhigen Sicherheit, mit welcher sie zuvor das Holz ergriffen hatte. Darauf blieben Beide stumm. Erst als sie sich dem Strande näherten, bemerkte Bertus eintönig:

„Vor der Schlucht kann ich nicht anlegen. Die Brandung ist zu schwer. Ich selbst mache mir nichts draus, und ginge das Boot in Stücken, Du aber würdest Deine Noth haben, das Land zu erreichen, ohne von einer See eingeholt zu werden. Ist Dir’s recht, so lande ich Dich hundert Faden weiter unterhalb. Die paar Schritte sind für Deine leichten Füße nichts.“

„Wenigstens nicht zu viel,“ antwortete Kordel ebenso gleichmüthig; „mach’ es, wie Du willst! Mir ist Alles recht. Am liebsten wär’ ich auf dem Landwege heimgekehrt.“

„Vielleicht das nächste Mal,“ meinte Bertus; „verliere nicht das Gleichgewicht, während ich das Segel stelle!“

Mit der freien Hand löste er die Leine von dem Pflock; nachdem er sie einige Spannen durch den Ring zu sich gezogen hatte, befestigte er sie wieder. Zugleich rührte er das Steuer, und nun fiel das Boot von seinem bisherigen Curs im rechten Winkel ab und kehrte den Bug der Landzunge zu.

Es war wieder Schweigen eingetreten. Bertus strengte sich auf’s Aeußerste an, auf den Strandhöhen, die gleich schwarzen Schatten dalagen, Merkmale zu unterscheiden, nach welchen er sein Anlaufen berechnen konnte. Endlich – sie mochten sich in schräger Richtung der Brandung bis auf zehn Faden genähert haben – seufzte er erleichtert auf.

„Halte Dich bereit!“ sagte er erregt, „kennst ja die Stelle, wo das Land schroff in die Tiefe abfällt. Nur vorbeistreichen kann ich auf dem Rücken einer Dünung, aber so nahe, daß ein Sprung Dich in Sicherheit bringt.“

„Sage, wenn’s Zeit ist!“ antwortete Kordel, ihren Korb unter der Bank hervorziehend; „Regenrock und Südwester schicke ich nächster Tage Deiner Mutter zurück – vielleicht bring’ ich Beides selber,“ fügte sie nach kurzem Ueberlegen hinzu.

„Wie’s Dir am bequemsten ist!“ versetzte Bertus. „Ist Dir’s zu weit, so hol’ ich’s gern.“

„Nein, ich bring’s; Deine Mutter soll nicht um Andere leiden, oder gar schlechter von mir denken. Grüße sie, und für Deine Mühe danke ich; hier ist meine Hand.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_157.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)