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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

keiner Erörterung bedürfen, zunächst für die Bundesgenossen beider kämpfenden Mächte, der Seuche wie der Menschen. Wohl ist es zuzugeben, daß für manche Bezirke starke Durchfeuchtungen des Bodens, für andere Nahrungsmangel und Hungersnoth, für noch andere abscheuliche Mißbräuche in der Handhabung des Leichenwesens als mächtige Beförderungsmittel der Pest sich erwiesen haben. Doch ist die Krankheit an solche Einzelmomente nicht gebunden. Die durchgreifendste Bedeutung hat eine Verkommenheit der unteren Volksschichten, mangelhafte Lüftung und Schmutz in den Wohnungen, tiefgreifende Verunreinigung des Bodens, enges Zusammenleben armseliger Bewohner. Wer russische Verhältnisse kennt, wird zugeben müssen, daß die Pest in den aufgezählten Momenten ihre gewohnten Alliirten vorfindet, daß die socialhygienischen Zustände des Landes ihre Verbreitung begünstigen. Dazu kommt eine gewisse Panik in den besser situirten Kreisen, die sich schon durch starke Auswanderungen nach dem Westen und Norden bemerklich gemacht hat, die Rohheit des niederen Beamtenstandes, die Bestechlichkeit Derer, welchen die Absperrung der verseuchten Orte anvertraut ist. Warnende Stimmen haben auch besonders hervorgehoben, daß die Pilgerzüge und Messen, welche um die Frühlingszeit das russische Landvolk von Alters her in gewissen Mittelpunkten vereinigen, sich leicht der Seuche dienstbar erweisen könnten. Die Regierung hat einen schweren Stand; sie muß die militärischen und finanziellen Hülfsmittel des Landes anstrengen und dasselbe gleichzeitig die wirthschaftlichen Nachtheile tragen lassen, welche die Grenzsperre mit sich bringt. Sie muß ferner schwer durchführbare Sanitätsmaßregeln, wie das Niederbrennen ganzer Dörfer, durchsetzen und dieselben einer durch den Krieg verwilderten Soldateska anvertrauen, welche zu Allem fähiger erscheint, als dazu, die geängstigte und mißvergnügte Landbevölkerung mit den Regierungsmaßnahmen zu versöhnen. Ein Bauernaufstand aber müßte als einer der gefährlichsten Pestalliirten angesehen werden.

Sehen wir uns nun die Bundesgenossen des anderen Theiles an! Die natürlichen Anwälte des Menschengeschlechts im Kampfe mit einer Krankheit sind die Aerzte. Bis zum Jahre 1864 gab es in Rußland auf dem Lande, in den Dörfern und auf den Gütern so gut wie keine Aerzte, denn diejenigen, welche von reichen Edelleuten engagirt waren, bildeten eine so kleine Zahl, daß sie für die vierzig Millionen von keiner Bedeutung waren. Als dann im genannten Jahre das Institut des „Semstwo“ – der landschaftlichen Selbstverwaltung – in’s Leben trat, war der Aufbau medicinischer Einrichtungen von Grund aus neu aufzuführen, vollzog sich aber mit einer Schnelligkeit und Energie, welche bewiesen, daß es sich um ein natürliches Bedürfniß handelte, dessen sich kein Volk entschlagen kann.

Kaum einige Jahre waren verflossen, so gab es schon Hunderte von Aerzten in Gegenden, wo nie vorher daran gedacht worden war. Doch befanden sich die Verhältnisse noch lange im Stadium der ersten Entwickelung; es war unmöglich , für jedes größere Dorf, ja nicht einmal für vier bis fünf Dörfer einen Arzt zu bestellen, weil Geld und Aerzte fehlten; die Letzteren, mit dem vielen Umherfahren unzufrieden, wechselten oft ihre Stellen, erschienen in den Dörfern wie Meteore und verschwanden ebenso; gegen ihre Gehülfen, die in den Dörfern postirten Feldscheere, erhoben sich nicht enden wollende Klagen. Da entstand – zuerst unter den Aerzten des Gouvernements Twer im Jahre 1870 – der Gedanke, in eigenen Congressen die Medicinalangelegenheiten zu berathen, und seit dieser Zeit ist von einem Einflusse der Aerzte auf die Verbesserung der Volksgesundheit wenigstens die Rede. In einigen Gouvernements sind sogar besondere Aerzte angestellt, welche sich speciell mit epidemischen Krankheiten zu befassen und Alles anzuordnen haben, was sich bis zum Schlusse der Epidemien als nöthig erweist.

So erscheint Rußland nicht so vollkommen entblößt, wie man nach älteren Nachrichten zu glauben geneigt gewesen wäre. Einen der glücklichsten Umstände haben wir ferner darin zu suchen, daß die Gefahr der Krankheit vor dem Zeitpunkte erkannt wurde, in welchem schwer widerrufliche Dispositionen hinsichtlich größerer Truppenbewegungen gegeben wurden. Die nach früheren Kriegen so furchtbare Gefahr, daß die Pest in Reih und Glied der Colonnen mitmarschirt, überall ihre Opfer als lebendige Pestkeime ausstreut, jeden berührten Ort als Krankheitsherd zurückläßt – sie ist angesichts der Aufmerksamkeit, mit welcher ganz Europa jenen Truppenbewegungen folgt, unmöglich.

Mißverständlicher Weise haben die Pestbülletins ein großes Gewicht auf die Kälte gelegt und in einer Temperatur von – 10° bis – 15° eine Art von Schutz gegen die weitere Verbreitung der Epidemie finden zu sollen geglaubt. Ständen die Dinge wirklich so, dann wäre jede Nachricht über milderes Wetter, das wir doch sicher im natürlichen Verlaufe der Jahreszeit zu erwarten haben, schon als Alarmsignal zu betrachten. Glücklicherweise ist dem nicht so. Auf europäischem Boden hat die Pest vielfach in harten Wintern epidemisch geherrscht, so 1574 in Heidelberg, 1625 in London, 1710 in Marienburg, 1837 bis 1838 in Rumelien, wo sie bei einer Temperatur von – 13° an mehreren Orten ihre Höhe erreichte und erst gegen Ende des Frühlings erlosch. Man hat bei flüchtiger Betrachtung dieser Verhältnisse die Einzelerfahrung, daß die Pest in Constantinopel gewöhnlich im Januar aufhörte, viel zu sehr verallgemeinert, und es ist eine unbegründete Furcht, in der man vielfach im Herannahen des Frühlings an sich einen Wendepunkt für die Bedingungen der Pesterzeugung erblickt: Klima und Temperatur verhalten sich sowohl der Pest, wie den sie Bekämpfenden gegenüber neutral.

Daß die russische Regierung die Macht des Feuers in weiter Ausdehnung zu Hülfe rufen will, ist allgemein bekannt; weniger vielleicht, daß seitens ärztlicher Commissionen und des „rothen Kreuzes“ Vorkehrungen in’s Werk gesetzt worden sind, um durch Herstellung von Unterkunftsplätzen, Gratisverabreichung von warmer Nahrung, Ersatz inficirter Kleidung etc. dem Pestelend – und durch das eigene tapfere Beispiel dem Pestschrecken und der sinnlosen Flucht entgegenzutreten. Beide sind, wie bereits angedeutet, neben dem Vertuschungssystem, die furchtbarsten Alliirten der Pest und würden all die günstigen Momente, welche wir auf russischer Seite entdecken konnten, schnell aufwiegen.

Und dann? – Was hat zu geschehen, wenn der Feind sich der gegen ihn angewandten Taktik als überlegen erweist, wenn er, der ihn umzingelnden Cordons spottend, stetig im Rücken derselben erscheint, wenn er mit dem Winde und den Vögeln in der Luft, auf dem Rücken des Paschers geographische und politische Grenzen überschreitet, wenn er wie ein gährendes Giftatom unbemerkt in das Adernetz der europäischen Eisenbahnen sich einschleicht und plötzlich in irgend einem Centrum des Verkehrs entdeckt wird? Die staatliche Fürsorge hat in schnellgefaßter Besonnenheit, mit Benutzung aller bekannten Erfahrungen diesen Möglichkeiten vorzubeugen gesucht, doch werden jene „Wenn“ nicht eher in Vergessenheit kommen, als bis der letzte Pestort seines letzten Kranken ledig ist; bis dahin sollen sie nicht den Zaghaften erregen, sondern den Verstand des Besonnenen schärfen.

Eine rücksichtslose Offenheit würde uns über jede Bewegung der Krankheit, über jede Maßregel gegen sie seitens des Staates in Kenntniß setzen; die so vielbewährte Wohlthätigteit würde, wie in unseren Feldzügen, nicht müde werden, unerschöpfliche Hülfsmittel zu sammeln und an die geeignete Stelle zu bringen; reicher Ersatz aus den Fonds des Staates und der Wohlthätigkeit würde die Opferwilligkeit in Bezug auf verdächtig gewordenes Eigenthum unterstützen. Frei und gesund gelegene, nach den erprobtesten Mustern in Barackenform aufgebaute Isolirspitäler würden die Kranken bei vorher bestimmter geringer Belegungszahl aufnehmen; tüchtige Aerzte und Krankenpfleger in größter Anzahl würden sich an die bedrohten Orte begeben. In jeder Gemeinde würden organisatorische Vereinigungen entstehen, stets bereit zu Belehrungen und zweckmäßigen Anordnungen; jeder Ort würde seine Desinfectionsanstalt, jeder, was wir besonders betonen möchten, seinen Feuerbestattungsplatz haben, um, nach bereits erprobtem Verfahren, gleichzeitig die Todten zu ehren und die Lebenden zu schützen. So denken wir uns den schlimmsten Fall. Und diese „Hoffnungen in der Furcht“ würden sich nach unserer Ueberzeugung erfüllen – oder all unsere Cultur und unsere veredelten Gefühle, unsere Humanität und unsere Wissenschaft wären eitel Dunst.

Die Ansteckungsfähigkeit der Pest ist übrigens nach den Aussprüchen der bedeutendsten Epidemiologen eine höchst bedingte. Weder die Berührung des Kranken und dessen, was ihn umgiebt, noch die der Leiche rufen ohne Weiteres die Krankheit wieder hervor. Es bedarf eines geeigneten Mediums, eines reifenden Bodens, um den Keim der Krankheit zu einer Blüthe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_147.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)