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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

„Ihr entdecktet nichts, was Euch an ihm befremdete? Ich frage nicht aus Neugierde, sondern weil ich Alles aufbieten möchte, sein Gemüth zu erleichtern.“

„Nichts, Kordel. Das Einzige, was mir einst an ihm auffiel – aber ’s ist wohl nicht der Rede werth –“

„Doch, doch, Mutter Seger, erzählt nur Alles! Der kleinste Nebenumstand lenkt zuweilen auf die richtige Spur.“

„Nun ja, Kordel, erzählen will ich’s schon, wenn ich auch nicht viel davon halte. Es war im zweiten Sommer nach Eurem Zuzuge, als ich in der Frühe hinübersegelte. Mein Mann begleitete mich und wollte mich Abends abholen. Ob Dein Vater mich erwartete, weiß ich nicht, ich glaub’s kaum. Denn als ich im Vorbeigehen durch’s offene Fenster sah, stand er vor dem Tische und hatte den Kopf tief gebückt. Ich meinte, er sei mit Lesen beschäftigt; um nicht zu stören – und hinein in’s Zimmer mußte ich – öffnete ich die Thür so leise, daß er’s nicht hörte. Als ich aber hinter ihm vorüberschlich, knarrte ein Brett unter meinen Füßen, und wie der Blitz fuhr er nach mir herum. Sein Gesicht war weiß wie ’n Laken, und weil er mich mit glühenden Augen ansah und die Arme an ihm herunter fielen, fürchtete ich, daß eine Krankheit über ihn gekommen sei und er zu Boden sinken müsse. ‚Euch ist nicht recht?‘ fragte ich, und um ihm die Hand zu leihen, trat ich auf ihn zu. Aber es war, als hätte meine Stimme ihn wie ein Donnerschlag getroffen. Das Blut schoß ihm in’s Gesicht, und seine Hände ballten sich, daß ich mich schier entsetzte. ‚Wie kommt Ihr hierher?‘ schrie er wild, und bevor ich in meinem Schrecken antwortete, meinte er. ‚’s ist unehrlicher Menschen Sache, Jemand heimlich zu belauschen. Ich habe Euch nicht gerufen, und nun geht und laßt’s Euch gesagt sein, daß Ihr jedes Mal anklopft, bevor Ihr bei mir eintretet!‘ Das Wort unehrlich wurmte mich, und ich dachte daran, die Arbeit bei ihm aufzugeben, als er plötzlich wieder kleinlaut wurde. Er legte mir die Hand auf die Schulter und redete mir zu, daß er in Gedanken gewesen sei und ich’s nicht für ungut nehmen möchte. Es komme zuweilen über ihn wie ein böser Traum, seitdem er seine Frau verloren habe. Und als er bemerkte, daß ich auf den Tisch sah – und wo sollte ich meine Augen lassen? – trat er vor mich hin, als hätt’s ihn verdrossen, und im Grunde ging’s mich nichts an, was da lag.“

„Aber was saht Ihr denn?“

„Nur so obenhin hatt’ ich’s bemerkt, doch es war wohl wegen meines Schreckens, daß ich’s im Gedächtniß behielt. Da lag nämlich ein Bild, wie sie die Maler zur Sommerszeit an unserem Strande mit einer Maschine anfertigen. Aber es war ein Männergesicht, und das eines jüngeren Mannes obenein, das heißt nicht das Deines Vaters, sondern ein hübscher Bursche mit großen Augen und einem Mund zum Sprechen, daß es ängstlich war. Das Bild war so groß wie eine Hand und nicht mehr neu, und einen Riß hatte es in der Mitte, als ob ein Meißel draufgefallen wäre. Daneben lag ein Bündelchen Schriften, glaube ich, ich betrachtete es nicht lange, weil’s mich nichts anging.“

Kordel, die so lange aufmerksam gelauscht hatte, wiegte das Haupt, wie um über das Vernommene nachzusinnen. Plötzlich sah sie wieder empor.

„Habt Ihr später Aehnliches erlebt?“ fragte sie mit ängstlicher Spannung.

„Nie wieder, und ich hütete mich, ihn zum zweiten Male zu überraschen. Auch sagte ich’s Niemand außer meinem Manne, und der rieth mir, über Dinge, die mich nichts scherten zu schweigen; so hab’ ich’s auch gehalten bis auf den heutigen Tag. Es mag wohl das Bild eines Anverwandten gewesen sein, mit dem er vielleicht in Unfrieden auseinander ging.“

„Verwandte besitzen wir nicht, ich weiß wenigstens von keinem, und den Vater darnach zu fragen – das bringe ich nicht über’s Herz. Es geht mir ohnehin nahe genug, zu beobachten, wie ihn die Traurigkeit verzehrt und er am Strande sitzt und stundenlang auf’s Meer hinausstarrt.“

„Vielleicht ändert’s sich, wenn Du erst einen rechtschaffenen Mann gefunden hast,“ meinte die alte Frau gutmüthig.

In Kordel’s Antlitz schoß es blutroth.

„Ich verlange keinen Mann,“ erwiderte sie heftig; „wollte ich einen, so würde es dem Vater entgegen sein, und ich bin zufrieden damit. Vor einigen Wochen erst sprach ein angesehener Kaufmann aus der Stadt bei uns in der Schlucht vor; ich hörte, daß er den Vater bat, in allen Ehren um mich werben zu dürfen. Der Vater dagegen wies ihn kurz ab, und wohl acht Tage dauerte es, bevor wieder ein Wort über seine Lippen kam. Dann meinte er, daß ich nicht aus Noth Jemandes Weib zu werden brauche und er bei Lebzeiten nie die Einwilligung zu meiner Verheirathung geben würde. Mir ist’s gerade recht. Wäre er mit dem Kaufmanne einverstanden gewesen, ich hätte ihn dennoch abgewiesen. Ich beuge mich unter keines Mannes Regiment, und sollte der Vater sterben, so finde ich mein Auskommen ohne fremde Hülfe. Nein, Mutter Seger, ich heirathe nie. Sehe ich doch, wie Ihr Euch in Gram verzehrt. Wäret Ihr ledig geblieben, so lebtet Ihr heute sorglos.“

„Und doch möchte ich die mit meinem Manne verlebten Jahre – und Noth und Trübsal brachten sie in schwerer Menge – nicht missen,“ seufzte die alte Frau; „habe ich ihn selber nicht mehr, so habe ich dafür meine Gedanken an ihn, und die kann mir Keiner nehmen.“

Kordel sah düster vor sich nieder. Sie war im Begriffe, ein neues Gespräch anzuknüpfen, als ein Schatten vor dem Fenster vorüberglitt und gleich darauf die Hausthür ging.

„Das ist der Bertus,“ sagte die alte Frau, sich belebend, „er hat eine eigene Art, die Klinke zu heben und die Thür hinter sich heranzuziehen.“

„So werden wir ja erfahren, ob ich zu Fuß gehen muß,“ versetzte Kordel, indem sie sich erhob.

Die Zimmerthür öffnete sich, und herein trat im rauhen Arbeitsanzuge Albert Seger, oder vielmehr Bertus, wie er allgemein genannt wurde. Das triefende Oberzeug hatte er auf dem Flure abgelegt, und obwohl die langen Seestiefel und die verschossene weite Arbeitsjacke wenig anmuthig auf seinem Körper hingen, raubten sie dem jungen Seemanne doch nichts von dem Einnehmenden seiner Erscheinung. Er war nicht übermäßig breitschulterig, dagegen etwas über die Mittelgröße hinausgewachsen und seine Bewegungen zeugten von Gewandtheit und Kraft. Sein hübsches Gesicht mit dem blonden Matrosenbart und den ehrlichen, dabei aber lebhaften blauen Augen strahlte förmlich in kerniger Gesundheit, während das wilde dunkelblonde Lockenhaar den Ausdruck einer leicht erregbaren, wohl gar leidenschaftlichen Gemüthsart erhöhte.

Mit vertraulichem Gruß näherte er sich Kordel, indem diese aber ihre Hand in die seinige legte, schien das bewegliche Blut sich einen Weg durch seine gebräunten Wangen bahnen zu wollen. In seinen Augen machte sich sogar eine gewisse Verwirrung bemerklich, indem er anhob:

„Daß Du meiner Mutter immer noch freundlich gedenkst, Kordel, das ist mir wahrhaftig ’ne rechte Freude, aber lieber wär’s mir, Du hättest einen anderen Tag zu Deinem Besuch gewählt.“

„Die See geht zu hoch?“ fragte Kordel, „beunruhige Dich deshalb nicht! Ich habe gerastet, und breche ich jetzt auf, so dauert’s keine dritthalb Stunden, bis ich daheim bin.“

„Für mein Boot geht die See nicht zu hoch,“ antwortete Bertus übermüthig, „auch kenne ich drüben eine Stelle, auf welcher ich den Strand so nahe streichen mag, daß ein guter Sprung Dich auf’s Trockene bringt. Aber die Nässe, Kordel, die Nässe! Bevor die Nacht hereinbricht, regnet’s Flaggenleinen, und was der Regen nicht besorgt, das thun die Schaumkämme.“

„So geben wir die Fahrt auf!“ entschied Kordel gleichmüthig, und ihr Tuch ergreifend, rüstete sie sich; „ob ich ein paar Stunden früher oder später zu Hause bin verschlägt nichts.“

„Hänge Dir wenigstens meines Mannes Oberrock um die Schultern!“ versetzte Mutter Seger fürsorglich.

„Ich begleite Dich, Kordel," nahm Bertus schnell das Wort, „und hältst Du Dich leewärts von mir, so will ich sehen, ob das Wetter Dir viel anhat.“

„Als ob ich mich fürchtete!“ lachte Kordel gezwungen, „nein, Bertus, Du bleibst bei Deiner Mutter. Einen Weg, den ich wohl hundertmal wanderte, finde ich mit geschlossenen Augen, und nach dem Regen frage ich nicht viel.“

„Sage was Du willst, Kordel!“ versetzte Bertus entschlossen, und hell leuchtete es in seinen Augen auf, „allein gehst Du nicht, und müßte ich mich ’n paar Dutzend Schritte hinter Dir halten.“

„Dergleichen wirst Du nicht thun!“ entschied Kordel, die

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