Seite:Die Gartenlaube (1879) 140.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

und Abtragung der Schulden auf Haus und Hof zurückbehalten wird. Will der Arbeiter nun dieses in der Noth eingegangene Verhältniß lösen, so hat er den größten Theil der so gemachten Ersparnisse zu opfern. Er findet seinen Besitz unverkäuflich, da er ihn nur wieder an einen Schneider verkaufen könnte und dieser im Falle des Kaufs von keinem der Schneiderherren Arbeit erhalten würde; so sieht er sich denn gezwungen, mit dem seinigen sich auf einen Vergleich einzulassen, dessen Ausgang nicht schwer zu errathen ist, denn auch hier macht dieser, wie bei der Arbeit, seine eigenen Preise.

Um jedoch ihr Geschäft betreiben zu können, müssen die Schneiderherren über ein großes Capital zu verfügen haben, da sie gewöhnlich einige hundert solcher Familien beschäftigen. Ist auch in jenem District der Grund und Boden billig, und sind auch die Wohnungen sehr einfach erbaut, so ist die Capitalanlage doch eine bedeutende; ferner steckt in den Nähmaschinen, deren manche dieser Familien vier oder fünf braucht, ein hübsches Stück Geld, und endlich erfordert der Nebenbetrieb eines kaufmännischen Geschäfts, das Alles, was zum Leben nöthig ist, zu liefen im Stande sein muß, sehr bedeutende Geldmittel. Hat der Schneiderherr seine Contracte mit den Engroskleidergeschäften geschlossen, die manchmal die Anfertigung vieler tausend Anzüge bedingen und wobei die Concurrenz die Preise schon sehr gedrückt hat, so muß er noch eine bedeutende Caution diesen Geschäften gegenüber für gute Ausführung der Arbeit und für richtige und gute Ablieferung der ihm übergebenen Kleiderstoffe stellen. Er hat eine Menge Gespanne zu halten, welche den Waarentransport von und nach der Eisenbahn besorgen, geübte Leute, die den Verkehr mit den einzelnen Arbeitern vermitteln, Commiß, welche die complicirte Buchführung besorgen, Alles Ausgaben, die bestritten werden müssen; sein Verdienst besteht nun natürlich in dem Unterschiede des Preises, den er als Arbeitslohn von dem Engroshause erhält, und dessen, welchen er seinen Arbeitern zahlt, und da sich dabei immer der letztere nach ersterem zu richten hat, so begreift sich, wie kärglich der Verdienst der Arbeiter oft genug ausfällt.

Das Engrosgeschäft liefert die Kleidungsstoffe fertig zugeschnitten in Paketen; jedes derselben enthält ein Dutzend Anzüge derselben Größe und desselben Schnittes verpackt, dem alle nöthigen Zubehöre an Futter, Watten, Fäden, Knöpfen etc. beigepackt sind, und so werden sie auch dem Arbeiter übergeben, der sich nun mit der ganzen Familie bis hinunter zum Kinde von fünf oder sechs Jahren an die Arbeit macht; letzteres näht wenigstens die Knöpfe an die billigen Fünf-Mark-Sommeranzüge, die dann allerdings auch nur bis zu dem Augenblicke halten, wo man sich ihrer bedienen will. Noch spät Abends kann man diese Familien in emsiger Arbeit beisammen finden. Kommt es nun zur wöchentlichen Abrechnung und ist dann von dem zuweilen durch sechszehnstündige Tagesarbeit schwer erworbenen Wochenlohne die Abschlagszahlung auf Haus und Hof, auf die Nähmaschinen gemacht, und die nicht unerhebliche Rechnung des Ladens bezahlt, so bleiben nur wenige Pfennige – der etwaigen Strafgelder für schlecht oder zu spät gelieferte Arbeit gar nicht zu gedenken. Vergebens strengt der Arbeiter sich an, jene unsichtbare Kette socialer Verhältnisse zu sprengen, die ihn zum Sclaven gemacht hat.

Eben weil der Arbeitslohn bei den fertig gemachten Kleidern ein so geringer ist, der noch durch die Vermittlung der Lebensbedürfnisse bedeutend geschmälert wird, ist es möglich, diese Kleider ungewöhnlich billig zu liefern, wodurch dann dieses Geschäft mit fertigen Kleidern eine so ungeheure Ausdehnung gewonnen hat. Man kauft in den von den Montgomery-County-Schneidern versorgten Läden factisch einen Anzug billiger, als derselbe bei einem guten, auf Kundschaft arbeitenden Schneider an Arbeitslohn kosten würde.




Mein zahmer Canarienvogel. Beinahe in jeder Haushaltung findet man heutzutage einen Canarienvogel, aber die Leute lassen sich von ihm nur etwas vorsingen und bekümmern sich nicht weiter um ihn, als daß sie für sein tägliches Futter sorgen. Und doch, wie dankbar zeigt sich gerade dieses Vögelchen, wenn man sich verständnißvoll mit ihm beschäftigt, wie reichlich lohnt es die geringe Mühe durch die vielen heiteren Stunden, die es in solchem Falle gewähren kann! Ich habe zwei Canarienvögel, von denen der eine ein Jahr, der andere sehr alt ist. Die Zähmung des erstern hat mir viel Vergnügen gemacht, und ich will hier zur Nachahmung mittheilen, wie ich dieselbe erreicht und wie weit sie möglich wurde.

Als das Vögelchen anfangs sehr scheu war, stellte ich den Käfig an meinen Schreibtisch dicht neben mich und hielt ihm hin und wieder einen mit ein wenig Zuckerpulver bestreuten Finger zwischen die Stäbchen des Käfigs und zwar so lange, bis er sich beruhigte und den Zucker pickte. Später öffnete ich die Thür des Bauers, und als er sich herauswagte, fing ich ihn behutsam, behielt ihn ein Weilchen in der Hand, streichelte ihn sanft, bot ihm zwischen meinen Lippen Zucker und andere Leckereien, legte dann dieselben auf meinen Pult und setzte ihn nun sacht neben mich. In den ersten Tagen flog er immer schleunigst fort, aber schon am dritten blieb er sitzen, zunächst schüchtern, bis er dann bald dreist wurde und die Leckereien verzehrte. Weiterhin setzte ich ihn ebenso auf meine Schulter, meine Hand etc., und in solcher Weise beschäftigte ich mich täglich eine Viertelstunde mit ihm. Nach vier Monaten war der „Hans“ schon überaus zahm.

Wenn ich jetzt des Morgens in’s Zimmer trete, ruft er mir sogleich sein „schiep“ entgegen und flattert so lange erregt im Bauer, bis die Thür geöffnet ist; dann hüpft er mir auf die Schulter, und ich gehe mit ihm in’s Nebenzimmer, um Kaffee zu trinken. Hier muß er auf meiner Schulter bleiben, da ich nicht dulde, daß er sich auf den Tisch setzt; er macht einige Rundflüge im Zimmer und kehrt immer wieder auf seinen Platz zurück, wo er hin und her trippelnd aus Leibeskräften singt, bis ich ihm zwischen den Fingern oder den Lippen seine Bröckchen reiche, die er dann vorsichtig abpickt. Während ich die Zeitungen lese, bleibt er auf meiner Schulter, zupft nun aber hin und wieder am Ohr oder Haar, bis ich mich umwende und mit ihm spreche, worauf er, auf meiner Schulter oder Stuhllehne sitzend oder hüpfend sein Lied schmettert. Beachte ich ihn einmal trotz seines Rufens, Pickens und Zupfens nicht, so klettert er mir auf die Brust, bis er mir mit einem Fuße im Bart steht und auf die Lippen pickt, bleibe ich auch dann noch ruhig, so spreizt er ein wenig die Flügel und fängt an in den süßesten Tönen zu flöten, indem er mir dicht vor dem Munde sich hin und her wiegt, bis ich endlich mit ihm spreche und ihn lobe. Von der Brust klettert er nun hastig wieder auf die Schulter, läuft hier eilig auf dem Arme entlang bis zur Hand, in der ich die Zeitung halte, und zupft vor Freude am Papier oder pickt an meinen Fingern.

Der Vogel hat sich so sehr an mich gewöhnt, daß er mich schon erkennt, wenn ich von einem Ausgange heimkehrend im Corridor oder Nebenzimmer bin; er beginnt sogleich sein rufendes Piepen, bis ich zu ihm an das Bauer getreten bin; dann wird er ganz still, bis ich ihn auffordere zu singen, worauf er erst sein Lied erschallen läßt. Wenn ich mich Nachmittags für eine kurze Frist zur Ruhe auf’s Sopha lege, so kommt er ebenfalls, setzt sich mir auf die Brust, zupft an meinem Bart herum, dann aber begiebt auch er sich zur Ruhe, sträubt die Federn, schließt die Augen und schläft, bis ich mit ihm aufstehe.

Mit dem andern, alten Canarienvogel beschäftige ich mich fast gar nicht; ich darf es nämlich nicht thun, denn aus Eifersucht wird mein zahmer Hans überaus bösartig. Die beiden Canarienvögel, deren Bauer, und zwar einige Stunden des Tags geöffnet, neben einander stehen, vertragen sich gewöhnlich ganz gut, sobald ich aber rufe: „Komm, Hans, hopp!“ spreizt dieser die Flügel und beißt nach dem andern, als wenn er sagen wollte: „Das geht dich nichts an, damit bin nur ich gemeint,“ und dann erst kommt er schnell zu mir geflogen. Wehe aber, wenn ich einmal den alten fange und ihn hätschele! Da geräth der Hans außer sich, fliegt höchst aufgeregt hin und her, folgt mir Schritt für Schritt und setzt sich auf meine Schulter. Streichle ich nun den alten, so sträubt Hans vor Wuth sein Gefieder, daß er aussieht wie ein Federball, und die Federn auf dem Kopfe stehen hoch empor, und wenn das nicht verfängt, stürzt er hinzu und hackt wüthend auf meine Hand und den Rivalen los. Als dies zum ersten Mal geschah und ich seine Bosheit noch nicht kannte, hielt ich es für eine Aeußerung seiner Angst, daß ich dem Cameraden etwas zu Leide thun werde; mein Irrthum trug aber die Schuld daran, daß dem bedauernswerthen anderen der Kopf blutig gehackt worden ist.

Fr– Gr–.


Ein landesväterliches Edict aus guter alter Zeit. Wie es mit der sogenannten landesväterlichen Fürsorge für die getreuen Unterthanen in der „guten alten Zeit“ beschaffen war, davon giebt nachfolgendes, aus dem betreffenden Gesetzblatte hier abgedrucktes Edict einen höchst charakteristischen Beweis. Interessant wäre es dabei, zu erfahren, ob dieses Edict vielleicht bis zur Einführung der Gewerbeordnung in Preußen bestanden hat oder schon früher aufgehoben worden ist. Das Edict lautet:

Nachdem Seine Königliche Majestät in Preussen, etc. etc., unser allergnädigster Herr, vermöge emanirten und öffentlich bekannt gemachten Edicti vom 6ten Julii 1717. in Gnaden verordnet haben, daß das Tragen der hölzernen Schuhe und Pantoffeln auf den sämmtlichen Dörfern der Churmarck künftighin gänzlich nachbleiben und abgeschaffet werden solle; Gleichwohl aber höchst mißfällig vernehmen müssen, daß Dero allergnädigsten Willens-Meinung hierunter nicht gebührend nachgelebet, sondern in verschiedenen Dörffern zum Schaden und Nachtheil der Schuster, denen solchergestalt ihre Nahrung entzogen wird, dem vor-angezogenen Edicti contraveniret und zuwider gehandelt werde, allermassen noch jüngsthin bey geschehener Haus-Suchung viele Paar hölzerne Schuhe und Pantoffel hin und wieder gefunden und weggenommen worden:

Als haben höchstgedachte Seine Königl. Majestät sothane Verordnung nicht nur gegenwärtig reïteriren und wiederholen wollen, sondern befehlen auch anderweit in Gnaden und darneben alles Ernstes, daß das Tragen der hölzernen Schuhe und Pantoffeln auf den Dörffern überall gäntzlich abgestellet und unterlassen werden solle, in Entstehung dessen aber, und da jemand darüber betroffen, auch dergleichen hölzerne Pantoffeln und Schuhe bey ihm gefunden würden, derselbe sodann zu gewärtigen, daß wieder ihn nach Befinden mit der Strafe des Hals-Eisens oder Gefängnisses verfahren werden solle. Gestalt denn zugleich den Gerichts-Obrigkeiten und Schultzen jedes Orts hiermit ernstlich, und bei Vermeidung 200. Ducaten zur Recruten-Casse zu erlegenden Strafe, welche unausbleiblich beygetrieben werden sollen, injungiret und anbefohlen wird, alle Quartale in den unter ihrer jurisdiction und Gerichtsbarkeit stehenden Dörffern eine genaue Visitation deshalb anzustellen und mit allem Fleiß darauf zu sehen, damit dieser Verordnung gehorsamste Folge geleistet und gehörig nachgelebet werde. Uhrkundlich unter Seiner Königlichen Majestät Höchsteigenhändigen Unterschrift und beygedruckten Königlichen Insiegel. So geschehen und gegeben zu Berlin, den 7. Decembr. 1726.

Fr. Wilhelm.
(L. S.)
F. W. v. Grumbkow. E. B. v. Creutz. C. v. Katsch. F. v. Görne. J. H. v. Fuchs”

Also der arme geplagte, leibeigene Bauer, gezwungen zu Hofe-, Frohn- und Jagddiensten, welche fast ein Drittel seiner Arbeitstage consumirten, verpflichtet zur Zehntenlieferung von Getreide aller Art, von Schafen, Gänsen, Hühnern, Bienen, außerdem Abgaben an Küster und Pastor etc., durfte nicht einmal zur Bekleidung seiner eigenen und seiner Kinder Füße selbstgefertigte hölzerne Pantoffeln tragen – damit nicht ein ehrbares Schustergewerbe dadurch geschädigt werde!

S.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_140.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)