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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Es hatten sich allerdings Schritte vernehmen lassen, und wenn Lideman sich in dem Augenblicke umgewandt hätte, so würde er eine Gestalt bemerkt haben, die sich an der Wand der Gebäude hinschlich, um sie Beide zu beobachten. Es war die nämliche Erscheinung, die kurz vorher an Erich wie an einen Vorgesetzten herangetreten war. Als Lideman seine Schritte der Gesellschaft wieder zuwandte, war der Mann verschwunden. – –

Peinvollere Stunden, als die während der Tafel, hatte Doris noch nie durchlebt. Das Gefühl ihrer Schuld lastete schwer auf ihr, und welches Gesprächsthema auch der Tischnachbar anschlagen mochte, er bekam nur halbe Antworten, oder die Antwort war vollständiges Schweigen. Lichtner suchte das Gespräch auf Else zu lenken, und wurde nicht müde, immer wieder dieses Thema anzuregen, so unbefriedigend auch die Auskunft war, welche er von Frau von Rechting erhielt; diese war ihm als eine der liebenswürdigsten Frauen geschildert worden, und gerade ihm gegenüber zeigte sie das jetzt so wenig.

Ihre Blicke gingen forschend, fragend, bittend, betheuernd nach ihrem Mann hinüber, aber Erich hatte deren nicht Acht. Er schien an der Seite Else’s in der heitersten Laune zu sein, und von der herben Strenge, die er seiner Gattin gezeigt hatte, war nichts mehr in seiner Stimmung zu entdecken; Doris hätte in Thränen ausbrechen mögen. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie nicht aufstehen und den Saal verlassen sollte. Sie machte wirklich Miene, unter irgend einem Vorwande sich von ihrem Nachbar zu entfernen. Da traf sie der Blick Erich’s – gebietend, bannend. Sie blieb. Wie eine Erlösung empfand sie es, als die Geheimräthin das Zeichen zum Aufheben der Tafel gab.

„Wollen wir nicht nach Hause gehen, Erich?“ fragte sie scheu.

„Nur noch einige Augenblicke!“ erwiderte er. „Es hat mich Jemand um eine Unterredung gebeten.“

Damit begnügte sie sich. Sie verlangte nicht zu wissen, wer dieser Jemand war. Das Wort ihres Mannes war ihr genügend; denn dieses Wort war Wahrheit allerwegen. Vielleicht würde selbst auch dann nicht ein Gefühl von Eifersucht in ihr Herz Eingang gefunden haben, hätte sie gesehen, daß Else auf Erich wartete und dieser mit dem jungen Mädchen nach einer Stelle des Gartens sich begab, wo sie Beide unbelästigt von Zeugen waren.

Die innere Bewegung führte Doris weiter; sie wurde von der Macht ihrer Empfindungen, von dem Anstürmen ihrer Gedanken fortgezogen.

„Und das Weib schauete an, daß von dem Baume gut zu essen wäre und lieblich anzusehen, daß es ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte.“ Diese Worte kamen ihr in die Erinnerung, Eva und Magdalena! In diesen beiden Namen ist die Leidensgeschichte, die pathologische Seite des Weibes erzählt, all das Schwanken und Wollen und Kämpfen, all die Zuckungen zwischen Schuld und Reue, Versuchung und Zerknirschung, Genuß und Abscheu, Jubel und Thränen, Taumel und Verzweiflung eng geschichtet in ein Herz, mag dieses unter den Bäumen des Paradieses wandeln, oder in modernster seidener Robe durch die glänzende Pracht unserer Salons rauschen. Das Herz des Weibes ist Eva und ist kein anderes geworden, nur die Toilette hat es gewechselt. Und was hat Doris mit Eva und Magdalena gemein? Alles Schritt für Schritt. Eva – ja. Aber Magdalena? Es ist wahr, sie hat nichts gethan, was ihr äußerlich den Nimbus einer unbescholtenen Frau hätte rauben können; und doch bekannte sie sich schuldig! Es giebt ein Magdalenenthum des Gedankens, des Gewissens, und dem war Doris verfallen.

Ein Geräusch weckte sie aus ihrem tiefen Sinnen. Sie sah sich wieder in dem Pavillon am Wasser – sie war nicht allein. Ein Schreckenslaut entfuhr ihren Lippen.

„Herr Präsident – was soll das? Was wollen Sie von mir?“

„Eine Antwort auf die leise, discrete Frage, welche ich in meinem Geschenke an Sie gerichtet habe – weiter nichts.“

„In welchem Geschenke?“ stotterte Doris.

„Deuten Sie es nicht schlimmer, als es ist! Es ist ja nur ein stammelnder Ausdruck meiner Gefühle für Sie. Was soll ich sagen? Treiben Sie mich nicht zum Aeußersten. O bleiben Sie! Bringen Sie mich nicht ganz von Sinnen!“

Diesmal blieb Doris nicht. Mit ein paar Schritten war sie aus dem Pavillon. Erich, Erich! rief, wie um Hülfe flehend, Alles in ihr; ihr pochendes Herz, ihre flammenden Blicke, ihre jagenden Schritte. Da kam Erich ihr entgegen. Wie gebrochen sank sie in seine Arme, und mühsam kamen die Worte von ihren Lippen:

„Erich – dort – ein Bube! O, wohin habe ich mich verirrt!“

Mit fliegendem Athem erzählte sie ihrem Manne, was ihr begegnet war. Er suchte sie zu beruhigen. Er führte sie in das Haus, mit der Weisung, daß sie ihn hier erwarten möchte. Er würde gleich zurück sein.

„Was willst Du thun? O bleibe! Dieser Mann ist zu Allem fähig!“

„Ruhig, mein Kind! In fünf Minuten bin ich wieder zurück.“

Erich nahm den Weg nach dem Pavillon. Auf halbem Wege traf er Lideman.

„Herr Präsident,“ trat er auf diesen zu, „nun ist mir ja auf einmal klar, warum mein Haus so große Anziehungskraft auf Sie geübt hat.“

„Ah! Ihre Frau Gemahlin hat Ihnen erzählt? Ein kleiner Scherz. Verzeihen Sie! Sie verrechneten sich. Fräulein Else ist ein sehr niedliches Mädchen, und Sie scheinen dort in jener Laube eine sehr intime Unterhaltung mit ihr gehabt zu haben.“

„Sie sind ein Verleumder.“

„Herr von Rechting!“

„Ich wiederhole es nicht einmal – tausendmal, wenn Sie wollen. Vor der ganzen Gesellschaft hier. Sie sind ein Meister der Lüge – ein Schurke. Nur ein solcher konnte mein Vertrauen täuschen, nur ein solcher – hier hob sich Rechting’s Stimme – als geheimer politischer Agent Verrath am Vaterlande üben, wie Sie das gethan haben.“

Nur die wie gezückte Dolche auf einander gerichteten Blicke der beiden Männer sprachen – sonst war es still um sie. Auch die Musik hatte eine Pause gemacht. Lideman schien von den Anklagen Rechting’s wie erstarrt, seine Lippen bebten, die fahle Blässe in dem brünetten Antlitze gab diesem etwas Leichenhaftes.

Sie waren nicht mehr allein; die Gäste sammelten sich um den Präsidenten, den factischen Gastgeber. Geheimrath von Wandelt an ihrer Spitze brachte ein Hoch auf denselben aus, ein bengalisches Feuer beleuchtete die ganze Gesellschaftsgruppe. In vollem Strahlenlichte trat jetzt jene unbekannte Gestalt aus dem Gebüsche heraus und legte die Hand auf die Schulter des Präsidenten mit den Worten:

„Im Namen des Gesetzes sind Sie verhaftet.“

Mit einem Schrei sank die Geheimräthin in den Arm ihres Mannes. Entsetzen hatte sich der übrigen Gäste bemächtigt. Während der Diener des Gesetzes mit dem Präsidenten abging, intonirte die Musik ein Potpourri mit der Melodie: „Ein freies Leben führen wir.“

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Weiße Sclaven in den Vereinigten Staaten. Etwa dreißig Meilen nördlich von Philadelphia fängt gleich hinter North-Wales, einer kleinen als Sommeraufenthalt bekannten Stadt, Montgomery-County an, dessen unfruchtbare Hügel, den Betrieb der Landwirtschaft ausschließend, nichts desto weniger mit unzähligen kleinen Wohnungen bedeckt sind, in denen täglich bis spät Abends das Geräusch der Nähmaschinen die Beschäftigung ihrer Bewohner anzeigt; es wohnen nämlich hier nur Schneider, die von den großen Kleidergeschäften, durch ihren Mittelsmann – Schneiderherrn dürfte wohl der passende Ausdruck dafür sein – ihre Arbeit erhalten.

Wenn auch gerade nicht arge Noth in diesem District herrscht, so ist doch der Verdienst bei sehr langer täglicher Arbeitszeit nur ein geringer, und wer sich einmal hier niedergelassen hat, dem ist es beinahe unmöglich, selbst mit schweren Opfern, diesen District verlassen zu können.

Die Bedingungen, die ihm der Arbeitgeber stellt, sind etwa folgende: Er verlangt von dem Arbeiter, daß dieser ein kleines Grundstück mit genügender Wohnung käuflich von ihm übernimmt und Alles, was er zu seinem Geschäft braucht, wie Nähmaschinen, die nöthigen Bedürfnisse des Lebens etc., von ihm und durch ihn bezieht; dafür verspricht letzterer ihm beständig Arbeit, natürlich zu einem Lohne, den er selbst festsetzt und von dem wöchentlich eine bestimmte Summe zur Abzahlung der Vorschüsse

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_139.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)