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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

No. 8. 1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 1 ½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig· – In Heften à 50 Pfennig.

Das Haus in der Schlucht.
Von Balduin Möllhausen.


1.

Das Salzwasser habe es ihm angethan, erklärte Peter Seiling; er habe daher seinem Hause eine Lage gegeben, die es ihm ermögliche, vom Fenster aus das Meer zu betrachten.

Mochte es immerhin befremden, daß er nicht in das nahe Fischerdorf zog, wo er manche geeignetere Stätte zu seinem Heim gefunden hätte, als in der einsamen, felsigen Schluchtmündung, so hatte doch Niemand Ursache, seine Angaben zu bezweifeln oder ihn deshalb in’s Gerede zu bringen. Denn er war nicht nur ein friedlicher Nachbar, sondern auch ein Mann, der für Alles, was er hier und dort entnahm, sofort baar bezahlte. Seine Nachbarschaft kam also zunächst dem kaum sechshundert Schritte entfernten Dorfe zu statten. War er außerdem ein Sonderling, so hatte er in seiner unabhängigen Lage vollkommenes Recht dazu, und an seine seltsamen Schrullen, zu welchen in erster Reihe ein scharf ausgeprägter Hang zur Einsamkeit zählte, der zuweilen wiederum von einer gleichsam krankhaften Sucht nach lebhaftem Verkehr unterbrochen wurde, gewöhnte man sich bald genug. Man bewies seinen Launen sogar eine gewisse Achtung, indem Niemand ihn in seinem Winkel behelligte, dagegen hieß man ihn willkommen, so oft er sich den zum Garn-Legen oder -Einholen aussegelnden Fischern in seinem eigenen Boote anschloß. Letzteres geschah trotz seines vorgerückten Alters mit einer Sicherheit und Gewandtheit, wie sie nur in langjährigem schwerem Seedienst erworben sein konnten. Das Dorf betrat er nie; zwischen ihm und den Dorfleuten vermittelte seine Tochter, ein bildschönes, blühendes Mädchen von neunzehn oder zwanzig Jahren. Cordula hieß sie, allein genannt wurde sie allgemein die braune Kordel. Diesen Namen hatte man ihr beigelegt, als sie, noch ein Kind, zum ersten Mal im Dorfe erschien und alle Welt über die prachtvollen dunklen Locken erstaunte, welche das liebliche Antlitz umwallten, und über die klugen braunen Augen, die so wunderbar zutraulich schauten. Manches hatte sich seitdem wohl geändert: das braune Haar wogte nicht mehr in wilden Locken, sondern umschlang in starken Flechten das stolz getragene Haupt, und statt des früheren kindlichen Zutrauens sprach eine gewisse trotzige Zurückhaltung aus den großen Augen, doch die braune Kordel war sie geblieben. Von ihrer und ihres Vaters Vergangenheit wußte man nicht mehr, als man im Laufe von zehn oder elf Jahren an ihnen beobachtet hatte. Denn so lange war es her, daß an einem schönen Frühlingsabend Seiling mit seinem Kinde in dem Dorfe eintraf und nach mehrtägigem Verweilen im Dorfkruge sich auf längere Zeit bei einem Fischer einmiethete. Die braune Kordel war damals neun Jahre alt. Gut zu Fuß, begleitete sie ihren Vater auf seinen Streifereien in der Nachbarschaft, und dann dauerte es nicht lange, bis dieser sich dazu entschloß, in der malerisch bewaldeten Schlucht seinen Herd zu gründen. Die ersten wilden Herbststürme hatten kaum begonnen, die gestorbenen Blätter zu schütteln, als Vater und Tochter in ihr eigenes kleines Haus einzogen und sich, da Seiling mit seinen Mitteln nicht zu geizen brauchte, dort so behaglich einrichteten, daß es eigentlich schon darum kein Wunder war, wenn sie den Aufenthalt in der Schluchtmündung jedem anderen in der Welt vorzogen.

Elf Jahre waren also seitdem verstrichen, und wie Seiling von Anfang an nie die Hülfe eines Dienstboten oder Tagelöhners in Anspruch genommen hatte, wirthschafteten Vater und Tochter auch jetzt noch immer allein. Mancher verlangende Blick richtete sich wohl auf das schöne große Mädchen, allein in Kordel’s ganzem Wesen, wenn es auch nicht unfreundlich war, lag doch so viel kalte Zurückweisung, daß von allen jungen Männern – und mancher stattliche Sohn wohlhabender Fischersleute befand sich unter denselben – kein einziger wagte, ihr mit einem Antrage zu nahen.

Wie Vater und Tochter lebten, wie sie ihre Zeit hinbrachten, namentlich im Winter, wenn der Schnee in der Schlucht fußhoch lag, wußte Niemand, weil Niemand sich getraute, bei ihnen vorzusprechen. Nur natürlich war es unter solchen Umständen, daß die Neugier in Bezug auf Seiling’s Vergangenheit unbefriedigt geblieben war. Selbst Cordula würde übrigens, hätte man sie darüber befragt, nichts Befriedigendes zu sagen gewußt haben; was über ihre eigenen Erinnerungen hinauslag, der Tod ihrer Mutter, die Stätte ihrer Geburt, das schwebte ihr in traumhaften Bildern vor, wie sie solche aus den ausweichenden Antworten ihres Vaters sich zusammmengereimt hatte. – –

Der Herbst hatte wieder einmal die tiefgrünen Waldungen mit seinen grellen Farben phantastisch geschmückt. Reif fiel zuweilen und tödtete Blumen und Kräuter, und auf manchen sonnigen Morgen folgte ein rauher, regnerischer Nachmittag. Doch wenn andere Leute sich fröstelnd in ihre Wohnungen zurückzogen, trieb es Seiling und seine Tochter in’s Freie hinaus, nur daß Jedes seinen eigenen Weg wählte, wie um mit seinen Gedanken allein zu sein.

Ein recht mißgestimmter Himmel hing über der Insel und der wogenden See. Seit drei Tagen hatte es aus derselben Richtung geweht, und zuweilen in so heftigen Stößen, als hätte es Einem die Haare vom Kopf fegen wollen. Auch Regen führte der Wind zur Abwechselung mit sich, feinen, nässenden Regen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_125.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)