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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

„In jedem Falle finden Sie hier – hier, Erich, ein Herz, das mit Ihnen fühlt, mit Ihnen trägt – alles und allezeit. Hier können Sie Ihren Schmerz entladen – und wenn dieses Herz etwas zu Ihrem Troste, auch nur zu einem Scheine von Glück beitragen kann: kommen Sie zu jeder Stunde, und diese Thür wird Ihnen offen sein – wie dieses Herz.“

Er nahm ihre Hand und drückte sie an sein Herz.

„Aber nun gehen Sie, verehrter Freund! Es paßt sich nicht,“ fügte sie lächelnd hinzu, „daß ein noch junger Mann in dieser Stunde Besuche bei einem unbescholtenen Mädchen macht. ‚Die Nachbarn haben immer offene Augen’ – würde Gretchen sagen. Und wenn Sie heim kommen, seien Sie freundlich, recht freundlich mit Doris, sonst –“

„Ah, Sie drohen mir, Regina, wo ich in meinem Rechte wäre, ihr eine strenge Miene zu zeigen.“

„Sonst wird diese Thür vor Ihnen verschlossen bleiben – – für immer!“

„Dann werde ich meine Frau heute noch herzen und küssen, damit Sie mir nur nicht böse sein sollen.“

„Und sagen Sie Doris, daß ich Ihnen das eigens aufgetragen – anbefohlen habe!“

„Wollen Sie mir nicht gleich einen Kuß für sie mitgeben, damit ich ihn unmittelbar an die Adresse befördern kann?“

Regina zuckte bei diesem allerdings mehr im Scherze geäußerten Verlangen innerlich zusammen, aber dann sprang auch sie in einen leichten Ton über und meinte, sein Kummer müßte nicht so tief gehen, da er darüber seine gute Laune doch noch nicht verloren habe.

An der Thür rief sie ihn nochmals zurück und hielt ihn an, als ob sie ihm noch etwas zu sagen hätte.

„Was mir eben einfiel, verehrter Freund! Sagen Sie Doris lieber nicht, daß Sie bei mir gewesen sind. Nicht daß ich vielleicht glaubte, sie würde eifersüchtig werden – das wäre ja Unsinn – aber ich möchte auch selbst den leisesten Schein meiden, als ob ich mich in Ihre ehelichen Verhältnisse mischte. Sie haben mich darauf hingeleitet, und ich habe Ihnen offen meine Meinung gesagt, als guter, treuer Camerad. Gute Nacht, Erich!“

Am Abend war die Immortelle von seinem Bilde verschwunden. Sollte das bedeuten, daß er für sie nun nicht mehr todt war? Die Stunde bei Regina hatte Erich innerlich wohlgethan. Er hatte sein bekümmertes Herz ausgeschüttet, und die Klarheit, die Offenheit, mit der die Freundin über die Verhältnis zu seiner Frau sich hatte vernehmen lassen, verschafften ihm eine augenblickliche Beruhigung. Jedenfalls war sein Heimgang besser, als sein Ausgang vom Hause gewesen war. In den Straßen der Stadt wogte noch der volle Menschenstrom um ihn, bis die Stille der Vorstadt ihn umfing und die Lichter von den erleuchteten Fenstern der Häuser nur vereinzelt noch durch die dichten Laubkronen der Bäume schimmerten. Einen Contrast zu dieser Einsamkeit bildete der Lärm, der aus einem Vergnügungslocale kam, welches an der Straße lag – Musik, Tanzen, Stimmengewirr im Innern. In dem Moment, als er unter den blauen und rothen Laternen an der offenen Thür vorbeiging, kam eine männliche Gestalt in schwarzem Frack, in Cylinder und weißer Binde heraus und bat ihn um Feuer für die Cigarre.

„Hier, mein lieber Rüchel, das sollen Sie haben.“ Darauf reichte der Assessor dem Genannten die brennende Cigarre.

„Wie – Sie, Herr Assessor, sind’s? Ach, wie lange haben wir uns nicht gesehen! Ja, es ist immer so, wenn die Herren Einem weggeheirathet werden, dann sind sie für uns begraben. Ich wäre schon längst einmal zu Ihnen gekommen, aber – die jungen Frauen sind immer auf die alten Diener eifersüchtig. Es handelt sich zwischen beiden Theilen um’s Pantoffelregiment. Aber ein Bischen bleich sehen der Herr Assessor aus.“

„Das kommt wohl vom Schein der blauen Laterne,“ meinte Rechting.

„Ja wohl, von der Laterne! Ebenso gut könnte ich sagen, daß Sie roth wie der Kellermeister eines Klosters aussehen. Das ist auch von der Laterne, Herr Assessor.“

„Aber Rüchel, daß Sie, in Ihren Jahren, sich um diese Stunde in solchen Localen umhertreiben!“

„Geschäft, nichts als Geschäft! Was thut man nicht, um sein Bischen Brod zu verdienen, Herr Assessor!“ Dabei machte Rüchel einen kunstgerechten Entrechat. „Haben Sie in einem Contretanz schon so etwas Hübsches gesehen, Herr Assessor? Ich bin seit ein paar Monaten Vortänzer in dem Local da drinnen. Jeden Abend eine Mark, drei Seidel, vier Butterstullen; wenn’s Krakehl giebt, lasse ich das Glas geschwind auslöschen – das ist mein Pouvoir. Weiße Binde und Handschuhe werden geliefert. Mit dem Frühaufstehen geht es nicht mehr so wie früher. Sie waren mein Letzter, den ich putzte und blank machte; dann habe ich meine Stellen niedergelegt. Aber hier hab’ ich’s auch bald satt. Das Schreien und Springen und den Staub aufschlucken müssen – ich huste schon. Und dann trägt man bei dem ordinären Volke immer seine Knochen zu Markte. Nach welcher Richtung gehen Sie, Herr Assessor?“

Erich zeigte nach rechts.

„Geh’ ich auch, und wenn Sie jetzt erlauben, werde ich Sie begleiten – ein Endchen. Ich muß heute früher nach Hause, weil wir nur einen Hausschlüssel haben und mein Zimmerherr ihn heute mitgenommen hat.“

„Sie vermiethen jetzt Zimmer, lieber Rüchel?“

„Ja, ich habe das Bischen, was ich auf die hohe Kante gelegt habe, da die Papiere alle so faul stehen, in Zimmerherren angelegt. Zwar kein großer Profit, aber doch sicher, und es läppert sich, und durchgegangen mit der Miethe ist uns auch noch keiner. Jetzt haben wir einen, eine Seele von einem jungen Mann, der seine Miethe pünktlich bezahlt und von zu Hause so viel Wurst und Schinken geschickt bekommt, daß ich und meine Frau ihm bei Aufzehrung dieser Vorräthe immer Beistand leisten müssen. Man thut ja so was gern. Nur einen Fehler hat er. Er spielt die Geige.“

Erich lachte und meinte, daß dies eher ein Vorzug sei, ein Bischen Musik im Hause zu haben.

„Das schon, aber zu viel ist auch nicht gut – und meine Frau wird mir melancholisch. Ihre erste Liebe war Einer vom Orchester, und der hat sich rein in’s Grab gespielt. Heute haben ich und mein Zimmerherr uns verabredet, punkt Zwölf uns vor der Hausthür zu treffen. Er war heute in Gesellschaft beim Geheimrath von Wandelt.“

Der Name machte Rechting aufmerksam.

„So, so! Also mit der Familie ist er auch bekannt?“

„Ja, und der alte Geheimrath war sogar schon bei ihm – hat ihn aber nicht getroffen und dafür eine gekniffene Karte abgegeben.“

„Und sein Name?“

„Färberssohn.“

„So heißt er?“

„Ein Färberssohn ist er, meine ich. – Eigentlich, die Färberei ist schon mehr Fabrik; sehr, sehr wohlhabende Leute – einziger Sohn. Den Vater sollten Sie kennen! Ich möchte sein Sohn sein, nur damit ich einen solchen Vater hätte. Mit dem Manne da wird’s Einem ganz douce um’s Herz. Aber auch der Sohn! Pique, sage ich Ihnen. Und ein forscher Arbeiter – er ist Ingenieur bei den neuen Wasserbauten. Ah, da sind Sie ja schon, Herr Lichtner! Na, das ist hübsch, daß Sie mich nicht zu lange warten lassen.“

Die letzten Worte sprach Rüchel zu einem jungen Manne, der im leichten Sommermantel mit einem Violinkasten an der Thür wartete. So weit Erich im Dunkel unterscheiden konnte, eine angenehme, sympathische Erscheinung, mit frischem Gesicht und einem kecken Bärtchen auf den vollen Lippen. Rüchel wußte, was unter Leuten von Welt in der Ordnung und Regel war. Er stellte die beiden Herrn vor; er war stolz gegenüber seinem jungen Zimmerherrn auf seinen „letzten Putzherrn“, und diesem gegenüber wieder auf seinen jungen Zimmerherrn.

„Sie haben heute Abend beim Geheimrath von Wandelt musicirt?“ richtete Erich an diesen das Wort.

„Ja, ich habe gespielt. Ob’s Musik war, das weiß ich nicht. Das müßte das Publicum entscheiden.“

„War große Gesellschaft im Hause?“

„Vielleicht vierzig Personen, gerade genug, um mit sich allein sein zu können. Es war der Geburtstag des Bankpräsidenten – und die Frau Geheimräthin hielt darauf, diesen in ihrem Hause zu begehen.“

„Sie scheinen näher im Hause bekannt zu sein?“

„Wie so, Herr von Rechting, wenn ich fragen darf?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_094.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)