Seite:Die Gartenlaube (1879) 093.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

No. 6.   1879.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Nachdruck und Dramatisirung verboten.
Uebersetzungsrecht vorbehalten.     
Irrende Sterne.
Novelle von Georg Horn.
(Fortsetzung.)


Dann hob Erich das Buch auf, welches auf dem Tische lag, und ließ Blick und Gedanken auf dem Titel weilen.

„‚Die Leiden des jungen Werther.’ Eine der ersten Ausgaben dieser wunderbaren Legende der Leidenschaft,“ bemerkte er.

„Legende nennen Sie das?“ fragte Regina. „Ist Ihnen der Quell, der Ihnen das heiße Herz und die schmachtende Lippe labt, auch eine Legende?“

„Ich habe dieses Buch,“ sagte Erich, „mit sechszehn Jahren verschlungen; mit einundzwanzig Jahren habe ich es als ein Brevier an das Herz gedrückt; mit fünfundzwanzig habe ich es bei Seite geworfen – und nun lese ich es in jedem Frühling wieder. Es erhält das Herz frisch. Als Legende habe ich es darum bezeichnet, weil unserer nüchternen Zeit diese Herzensströmungen, diese Qualen, dieses minutiöse Zergliedern der glühendsten Empfindung, dieses wollüstige Rühren in seinem Herzensblute wie ein sagenhafter Zustand vorkommen müssen. Das Buch müßte aber auch wie eine sagenhafte Geschichte beginnen: Es war einmal ein Mann; der hatte auf Gottes Welt gar nichts zu thun; darum wurde er Werther. – Aber daß Sie das noch lesen, Sie, eine Persönlichkeit, so voll und thatkräftig! Sie müßte das Buch eigentlich abstoßen – “

„Stellenweise stößt es mich ab – ja, aber im Ganzen erlabt es mich tief. Es ist mir eine Genugthuung, zu lesen, zu forschen, wie die Leidenschaft in dem Herzen eines Mannes wühlen kann.“

Sie sagte nicht, daß es ihr ein Genuß war, mit dem unglücklichen Werther durch alle Stationen hoffnungsloser Liebe hindurchzugehen. Sie wollte überhaupt das Gesprächsthema nicht weiter fortführen; denn schon klopften ihre Pulse rascher; ihre Rede kam nur in kurzen Sätzen aus einer wogenden Brust. Endlich fragte sie, wie es Doris gehe.

Er zuckte die Achseln und lächelte trüb. „Wie es ihr geht? Wozu die Frage? Sie können es sich wohl denken, Regina – wie immer! Heute hatte sie wieder eine glänzende Equipage vorüberfahren sehen, in der Lideman und die Geheimräthin saßen – und sie war nicht dabei; sie mußte daheim in ihrem Hause, bei ihrem Kinde sitzen. Davon ging ihr das Herz über.“

„Hm, Lideman!“ sagte Regina vor sich hin. „Er kommt seit einiger Zeit nicht mehr zu Ihnen?“

„Nein,“ war Erichs kurze Antwort.

„Ja richtig, Doris hat es mir erzählt.“

Wieder zögerte sie, weiter zu sprechen. Nur wenig hätte es jetzt bedurft, um Erich argwöhnisch zu machen, den nur die völlige, fast kindlich-naive Arglosigkeit seines Herzens bisher verhindert haben konnte, den wahren Grund der Anhänglichkeit des Präsidenten an sein Haus einzusehen. Durch eine Erweckung seines Argwohns aber würde in Erich’s Brust auch ein Sturm entfacht worden sein, welcher Regina weit von ihrem Ziele entfernt haben würde; ein Sturm, welcher das, wie es schien, allmählich sich abstumpfende Interesse Erich’s für Doris zu hellen Flammen emporgeweht hätte. Und jenes Ziel? fragen wir. Regina kannte es selbst nicht klar. Es stand nur wie ein ferner Punkt vor ihr, und dieser war die Person Erich’s. Was zwischen ihr und ihm noch lag, das war wie die wogende, wallende Atmosphäre, die uns von anderen lichten Himmelskörpern trennt.

„Sie sind unzufrieden mit Ihrer Frau, lieber Freund,“ fuhr sie nach einer Pause wie aus einem stillen Gedankengange heraus fort; „ich gebe Ihnen zu, um einmal ganz offen zu sprechen, daß Sie, mit Ihrem Gefühle, bei Doris niemals jenes höchste Glück empfinden werden, das sich Ihnen in dem Charakter einer andern Frau geboten haben würde, die vielleicht weniger schön und verführerisch gewesen wäre, als Ihre wunderliebliche Frau. Aber solche Naturen, die das Glück in höchster Potenz geben, tragen auch wieder die gegentheiligen Stimmungen bis in die Tiefe aus, empfinden Kälte, Verletzungen, Zurücksetzung von Seiten eines Mannes weit tiefer, und davor sind Sie bei Doris bewahrt. Sie umgaukelt Sie wie ein Sonnenstrahl. Sie werden mit ihr vielleicht noch härtere Prüfungen durchmachen, schlimmere Erfahrungen, die Ihnen bei einer andern Lebensgefährtin erspart geblieben wären. Durch eine Andere würden Sie vielleicht eine bessere Stütze in Ihrem Berufsleben gefunden haben, eine Theilung der Arbeit zwischen dem Geiste des Mannes und dem Gemüthe einer Frau. Aber welcher Erdgeborene kann sich der höchsten Gunst des Schicksals rühmen? Im Grunde hat es Ihnen doch ein volleres Theil zugewendet, als Millionen Anderen. Sehen Sie Doris an! – Können Sie von schöneren Augen angeblickt werden, von quellenderen Lippen den vollen Trank des Lebens trinken? Nein, nein, Sie sind doch ein glücklicher Mann!“

Sie spendete ihm einen Trost, der ihn noch mehr verwunden mußte. Vielleicht war das ihre Absicht. Aber nicht lange ließ sie ihn unter dem Eindrucke des gallbitteren Inhalts ihrer Rede, der so gewandt in die weichste Form gehüllt, mit dem theilnehmendsten Tone gesprochen war. Sie zog plötzlich seine beiden Hände zu sich herüber.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_093.jpg&oldid=- (Version vom 28.5.2018)