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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Oder von einem zuvor als Egoist Verschrieenen: Welches Wunder hat diesen Mann in den zärtlich aufopferndsten Vater umgewandelt? Kein Wunder war es; ihre Kinder haben sie einfach dazu erzogen, wenn auch unbewußt.

Freilich die Liebe, die urewige erhabenste Lehrmeisterin der Menschen, muß vorhanden sein, wenn solche Wunder bewirkt werden sollen, aber – Gott sei Dank! – die Liebe zu den eigenen Kindern ist ja dasjenige Gefühl, welches zu allerletzt erst ertödtet wird im Menschenherzen; und solange dies noch lebendig ist, erziehen auch die Kinder ihre Eltern, leise und unmerklich, von Jahr zu Jahr. Denkt nur darüber nach, ihr Väter und Mütter, ob es nicht so ist!

Hier ein Beispiel: Dein Jagdhund hat einen kleinen Fehler begangen und wird dafür unbarmherzig mit der Peitsche gestraft. Da fällt dein Blick, du junger Vater, von dem winselnden Thiere hinüber auf dein Söhnchen, das, an allen Gliedern zitternd, daneben steht, und mit den großen thränenschweren Kinderaugen fast noch mehr, als mit den Lippen fleht:

„Papa, lieber Papa, schlage doch den guten Hector nicht! Es thut ihm ja so weh; bitte, bitte, schlage ihn nicht!“

„In den Winkel fliegt da die Peitsche, und das Kind wird auf den Arm genommen – darauf möchte ich wetten.

Wohl sagst du beschwichtigend: „Weißt Du, der Hector ist ungezogen gewesen, er hat die Strafe verdient,“ aber doch wirst du nie wieder den Hund in des Kindes Gegenwart strafen, und wenn du es draußen thust, meilenweit vielleicht von deinem Hause: beim ersten Schlage stehen die milden frommen Kinderaugen wieder vor dir, und die unbedingt nöthige Strafe artet nie wieder aus in einen Act brutaler Rachegier gegen das wehrlose Geschöpf.

Hast du eines der beliebten Kraftworte, die selbst deine Frau dir nicht abzugewöhnen vermochte, nur ein einziges Mal von den Lippen deines Kindes nachsprechen gehört, so wird es kaum wieder über die deinigen kommen. Wie könntest du dem Kinde verbieten auszusprechen, was es den Vater sagen hört?

Dein Sohn kommt nun zur Schule. Da bringt er daheim bald mancherlei Fragen vor, über welche er Auskunft wünscht. Bald betreffen dieselben einen geschichtlichen oder geographischen, bald einen naturwissenschaftlichen oder Kunst-Gegenstand. Da heißt es anfangs: Das hat der Papa wieder vergessen, oder: Er kann sich im Augenblick nicht darauf besinnen, oder auch: Er hat heute keine Zeit, dir das zu erklären etc., aber wenn diese Antworten gar zu oft kommen, macht sich auf dem intelligenten Gesichte des Kindes ein Zug des ungläubigen Staunens bemerklich, daß der Papa gar so viele Dinge wieder vergessen hat.

Und nun sitzt dieser vergeßliche Papa immer häufiger, heimlich, über einem Geschichtswerk oder dem Conversationslexikon, und siehe da – plötzlich hat er Zeit, dem Sohne die Fragen zu beantworten und die Zweifel zu lösen.

Die Lesepassion, die mit dem zwölften bis vierzehnten Jahre bei jedem geweckten Kinde ausbricht, sucht nach allen Richtungen ihn Befriedigung. Damit nun das Kind nicht in unbewachten Momenten schädliche und unpassende Lectüre erwischen möge, werden die aus dem Französischen übersetzten Romane sorgfältig weggeschlossen, so sorgfältig, daß eines Tages der Vater einen derselben ungelesen wieder fortträgt und den Verleiher bei dieser Gelegenheit zugleich beiläufig fragt:

„Haben Sie nicht auch etwas Interessantes, was für die Jugend paßt?“

„O gewiß!“ lautet die Antwort; der Katalog wird vorgenommen und durchgelesen, und – der Vater bringt diesesmal Bücher mit nach Hause, die er nicht einschließen braucht, nein, die er sogar mit Vergnügen von den Kindern vorlesen hört, wenn der Winterabend die Familie um den großen runden Tisch versammelt. Statt im Bierhaus oder in der Kegelbahn, sitzt nun der Vater daheim im bequemen Lehnstuhl, die Cigarre in der Hand, und läßt seine Blicke rundum schweifen, von der fleißig arbeitenden Mutter zu den hübsch ruhig spielenden kleinen Kindern, bis sie zuletzt an dem blühend frischen jungen Vorleser haften bleiben. Er denkt des Tages, da dieses Kind ihm zurief: „O, schlage den guten Hector nicht!“ und er bemerkt mit Erstaunen, was sein Kind aus ihm gemacht hat.

Dieser Vater ist nur ein Beispiel von vielen. Sollte es dem verknöcherten Geldmann, dem vertrockneten Gelehrten, dem leichtsinnigen jungen Officier nicht ähnlich ergehen? Laßt sie aber Alle gute Väter werden, und sie werden dadurch zugleich auch gute, brave und glückliche Menschen. –

Die Mutter aber, die wird erst recht erzogen durch ihre Kinder. Mit dem ersten Schrei des Säuglings beginnt diese Erziehung zu Geduld, Selbstverleugnung, Fleiß, Ordnung, Consequenz, mit einem Worte zu all den Eigenschaften, die einer braven Hausfrau und Mutter unerläßlich sind. Im Elternhaus, in der Schule oder Pension wird nur der Grund gelegt zu allen diesen Tugenden, aber ausgebildet, vollendet können sie nur werden durch den Einfluß geliebter Kinder. Darum auch vermissen wir so häufig diese echt weiblichen Tugenden an unverheiratheten oder kinderlosen Frauen. Diese fühlen auch meistens selbst, daß ihnen Etwas fehlt, was sie ausschließlich von Kindern empfangen können, und suchen deshalb Ersatz dafür bei adoptirten oder verwandten kleinen Kindern, die sie bemüht sind gleich eignen an sich zu fesseln. Wo es gelingt, da wird solch ein Mädchen keine „alte Jungfer“, und ob sie siebenzig Jahre zählte. Sie, die sich Mutterglück und Freuden unter erschwerenden Umständen, mit vollem Bewußtsein und heiligem, festem Willen erkämpft hat, verdient gewiß deren Genuß noch weit mehr, als die wirkliche Mutter, welcher die Natur alle diese Freuden von selbst entgegenbrachte. Nie habe ich vor einem weiblichen Wesen höhere Achtung empfunden, als vor einer freiwilligen Pflegemutter!

Beispiele reden auch hier, beim Capitel über die Erziehung der Mutter durch die Kinder, die lebendigste Sprache:

Denkt euch eine junge Mutter in feiner, duftiger Balltoilette, wie sie dem Kinde, das sich mit weicher Zärtlichkeit an sie schmiegen will, ängstlich wehren muß. „Greife mich nicht an! Du zerdrückst mein Kleid, du[WS 1] zerzausest mein Haar, geh mir aus dem Wege!“

Wenn das arme kleine Wesen dann, schüchtern in eine Ecke gedrückt, zu der „schönen“ Mama hinüber sieht, die es nicht küssen und herzen darf – da klopft ihr plötzlich das Herz im Busen, als wolle es das seidene Kleid zersprengen, und mitten in allen Ballfreuden kann sie den traurigen Abschiedsblick ihres Kindes nicht vergessen. Sie überlegt es zweimal, ehe sie die nächste Einladung annimmt; sie überlegt es jedesmal reiflicher, bis sie sich klar geworden ist, wo fortan ihre Freuden zu suchen und zu finden sind.

Die Köchin einer jungen Haushaltung gilt für recht brav und zuverlässig, aber nur so lange, bis das erste Kindlein zum ersten Male erkrankt. Dann aber, wenn so viel, oft Tod und Leben des Lieblings von gewissenhafter Zubereitung seiner Nahrung abhängt, dann geht die Mutter doch selbst in die Küche und bemüht sich, das Krankensüppchen gerade so zu bereiten, wie es das Kind am liebsten ißt, oder wie es der Arzt verordnet hat.

Und bei dieser Gelegenheit sieht sie wohl auch in die anderen Töpfe und bemerkt allerlei, was wohl besser oder sparsamer eingerichtet werden könnte. Zuletzt lernt sie, daß, hier wie überall, „Tadeln“ nicht allein genügt. „Besser machen“ – das mußt du können, junges Frauchen. Dann erst bist du die Herrscherin in deinem Hause und nicht die Sclavin deiner Dienstboten. –

Auf dem Spaziergange erzählt die Mutter zuweilen den Kindern eine Geschichte, oder plaudert mit ihnen und giebt ihren tausend wißbegierigen Fragen geduldig Audienz. Zuweilen thut sie das, aber heute ist sie übler Laune. Da fällt ihr nichts zu erzählen ein; die Kinder sollen ihr nicht so vor den Füßen trippeln; zuletzt ruft sie wohl gar ein unwilliges: „Laßt mich!“

Still, mit gesenktem Köpfchen, schreiten die Kinder eine Weile neben ihr her. Aber der lustige vierjährige Lockenkopf, der Aelteste, hält es nicht länger aus:

„Mama, hast Du Kopfweh?“ fragt er schüchtern, „oder bist Du traurig?“

„Nein, mein Kind; warum denn?“ fragt die Mutter zurück.

„Du siehst so böse aus, gar nicht so wie sonst.“

„Nein, liebes Kind!“ ruft da die Mutter im alten freundlichen Tone und denkt dabei: Ich bin nur nicht bei Laune und lasse es diese armen Kinder entgelten, die keine Schuld daran tragen. – Laut aber ruft sie: „Wißt Ihr was, hascht mich einmal; wer kann die Mama fangen?“

Und dahin fliegt sie über den Rasen, die Kinder jubelnd hinter ihr drein, wie erlöst von einem schweren Banne, und weit fort, hinauf in die Wolken, flattert die böse Laune: weg ist sie.

Anmerkungen (Wikisource)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_066.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)