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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Was die Gelegenheit zu dieser eigenthümlichen Bestattungsweise gegeben hat, ist auch bei uns in Deutschland nicht unbekannt, nämlich die Eigenschaft gewisser Gewölbe, Leichname durch Austrocknung der Verwesung zu entziehen und zu mumificiren. Solche Eigenschaft besitzt z. B. der bekannte Bremer Bleikeller, in welchem einige Leichen in mumificirtem Zustande als Merkwürdigkeiten gezeigt werden. Aber nur im südlichsten Theile Italiens ist es, der Eigenart des dortigen Volks entsprechend, möglich, mit Hülfe eines solchen Gewölbes einen ganzen „Kirchhof“, oder richtiger eine Ausstellung vieler Tausender von Leichen zu veranstalten, die noch täglich vermehrt wird.

Wir fahren am Dom und dem Palazzo reale vorüber, zur Stätte des Todes, zu den Kapuzinern, steigen eine breite Steintreppe hinab und treten in einen riesigen, hochgewölbten Kellerraum, dem zahlreiche Fenster ausreichendes Licht gewähren. Keine Spur von dumpfer Luft, von Modergeruch ist wahrzunehmen. Doch welch ein Anblick bietet sich unserem Auge! An den Wänden, in drei-, vierfachen Reihen über einander Tausende von mumificirten Leichen! Die Haut ist bald gelblich, bald bräunlich, selbst schwärzlich, lederartig, aber die Gesichtszüge sind fast alle noch erkennbar, nicht selten durch einen ausgeprägten, unzweideutigen Gesichtsausdruck einen bestimmten Eindruck hervorrufend, sodaß wir sagen: dieses Gesicht lächelt; dieser Mund ist schmerzlich, jener zum Weinen verzogen; auf diesem Gesichte spiegelt sich tiefer Friede, auf jenem Unruhe; aus diesen Zügen spricht der Haß, aus jenen die Wuth. So glaubt man nicht Todte, man glaubt Lebende vor sich zu haben, und dieser Eindruck wird wesentlich durch den Umstand erhöht, daß die Leichen nicht etwa in Leintücher eingehüllt, in liegender Stellung sich befinden; nein, alle sind mit den Gewändern, welche sie im Leben getragen, bekleidet; die zahlreichen Kapuzinerleichen mit der Kutte, die Laien mit ihren Festkleidern, die Frauen und Mädchen (letztere durch Kronen ausgezeichnet) in häufig kostbaren Gewändern, mit Spitzen geschmückt und Glacéhandschuhe an den Händen. Der uns begleitende Kapuziner, durch lange Gewohnheit gegen jedes Gefühl des Grauens abgestumpft, bewegt mit dem Finger die vorstehende Zunge eines vor dreihundert Jahren verstorbenen Ordensbruders und sagt lächelnd: „Mit der hat er gepredigt.“

Die tiefe Stille, welche herrscht, wird plötzlich durch lautes Gespräch, durch Gelächter unterbrochen. Die Angehörigen eines Knabenpensionates werden durch den Raum geführt; sie gehen vielleicht an den Ueberresten ihrer Verwandten vorüber, aber die Majestät des Todes ist durch den trügerischen Schein des Lebens verscheucht; selbst das jugendliche Gemüth empfängt keinen ernsten Eindruck von den hier schauerlich zur Schau gestellten Todten. Die jungen Leute scherzen und lachen; sie theilen einander ihre Wahrnehmungen und ihre Urtheile über diese und jene Leiche und über deren „Costüme“ mit; kurz sie benehmen sich gerade in derselben Weise, welche für die Besucher eines Wachsfiguren- oder Raritätencabinets angemessen und natürlich erscheint. Wir sind zufällig in der Nähe einer der zahlreichen, mit Kapuze versehenen Leichen stehen geblieben, und der begleitende Mönch macht uns bemerklich, daß diese Leiche trotz des Ordensgewandes keineswegs eine Kapuzinerleiche sei. „Sie sehen,“ setzt er hinzu, „es fehlen die Sandalen. Seine Familie“ – der stete Aufenthalt, ich möchte sagen, der fortdauernde „Umgang“ mit den Leichen hat den Kapuziner schließlich so weit gebracht, daß er von denselben nicht wie von Todten, sondern geradezu wie von lebenden Personen spricht – „seine Familie,“ fährt er fort, „ist im Laufe der Zeit ausgestorben, da aber sein Platz einmal bezahlt ist, so muß er hier bleiben; nun waren seine Kleider allmählich so defect geworden, daß es mit denselben nicht weiter ging; deshalb haben wir ihm aus Barmherzigkeit (‚per carità’) ein Kapuzinergewand angezogen.“

Dann werden wir auf eine unter Glas befindliche Knabenleiche aufmerksam gemacht, welche, mit einem ebenso modernen wie eleganten Anzuge nebst Glacéhandschuhen bekleidet, einen Strohhut in der Hand hält. „Sehen Sie,“ sagt unser Mönch, „die Mutter that viel für das Kind; als es starb, befand sich die Familie in nur mäßigem Wohlstande; später haben sich die Verhältnisse sehr gebessert, und vor einem Jahre hat die Mutter dem Knaben diesen neuen Anzug angeschafft, auch zur besseren Erhaltung den Glaskasten besorgt.“

Unter Anderem bemerken wir einen jungen Mann und ein junges Mädchen in Hochzeitskleidern; beide sind an ihrem Hochzeitstage verunglückt, und in Folge dessen tragen sie nun für alle Zeiten ein „hochzeitlich Gewand“. Auf Befragen erfahren wir, daß die „carità“ der Kapuziner in Folge Aussterbens oder der Verarmung von Familien nicht selten in Anspruch genommen wird, und im Laufe des Gesprächs wird uns klar, daß – was übrigens nur die nothwendige Folge der seltsamen Bestattungsweise ist – die Palermitaner Familien, welche ihre Todten öffentlich ausstellen, um Erhaltung, beziehungsweise Neubeschaffung anständiger Kleidung für ihre verstorbenen Angehörigen sich zu kümmern haben, ähnlich wie wir, die wir unsere Todten der Erde übergeben, von Zeit zu Zeit genöthigt sind, für Erhaltung oder Wiederbestellung der Grabstätte oder des Denksteins unserer Todten zu sorgen. Die ursprünglich beschaffte Kleidung verwittert natürlich im Laufe der Jahre und gewährt einen häßlichen, ärmlichen Anblick; das kann die reiche, angesehene Familie nicht dulden; der Sohn oder der Großsohn muß seinem vor vielleicht zwanzig, vierzig Jahren gestorbenen Vater oder Großvater einen neuen Anzug machen lassen; da die Sache nichts Ungewöhnliches ist bei dieser eigenthümlichen Bestattungsweise, so wird sie von den Familien naturgemäß in derselben Weise behandelt, wie wenn das gleiche Bedürfniß bei einem lebenden Familienmitgliede vorläge – das Resultat aber bleibt: Statt den Kreisen des Lebens entrückt, über dieselben emporgehoben zu sein, verbleibt der Todte innerhalb derselben; er hat gleich den Lebenden Bedürfnisse, die nichts weniger als überirdischer, vielmehr sehr irdischer Natur sind – es sind Bedürfnisse zur Befriedigung der gemeinen Lebensnothdurft eines Todten!

In den weiten Sälen, welche die Wohnung der Todten bilden, bemerken wir noch, anfangs nicht ohne geheimes Grauen, eine nicht unbeträchtliche Anzahl großer Katzen: bei näherer Erkundigung aber bitten wir den Thieren das Mißtrauen, welches sie uns während eines Augenblickes einflößten, ab; sie üben zum Schutze der Todten strenge und wirksame Polizei gegen Ratten und Mäuse.

Die reichen Familien Palermos, welche auf diese Weise in der Kapuzinergruft ihre Todten unterbringen, veranstalten sonach zugleich mit denselben eine dauernde Ausstellung, welche am Allerseelentage ihren Glanzpunkt erreicht; dann findet Gottesdienst bei prächtiger Erleuchtung statt, und die Familien statten ihren verstorbenen Angehörigen einen Besuch ab; bei den reichen und auf Aeußerlichkeiten Gewicht legenden Familien sind die Besuch-empfangenden gewiß ebenso festlich gekleidet, wie die Besuch-abstattenden.

So zeigt sich auch an dieser ernsten Stätte, wie der Geschmack am Aeußerlichen bei den Süditalienern Alles beherrscht; selbst der strenge Tod hat diesem Geschmack seinen Tribut nicht versagen können. Was wir bei den Kapuzinern finden, das ist ein lügnerisches Mittelding zwischen Tod und Leben, dem jede Wahrheit fehlt, ein Scheingebilde, wie so Manches im Leben einer Bevölkerung, welche den Schein über die Wirklichkeit stellt, dem Scheine lebt und schließlich dem Scheine stirbt. Ernste Arbeit vieler Jahre wird die erziehende Hand an dieses Volk legen müssen, um es zum Ernste des Gefühls und Denkens heranzubilden. Oder wäre es unabänderliche Bestimmung, daß die Bewohner der gesegnetsten Länder niemals des vollen Segens der Cultur theilhaftig werden?

Korell.


Mikrokokken und Bakterien.


Genau vier Jahrzehnte sind verflossen, seit der Professor der Physiologie an der Universität zu Lüttich in Belgien, Thomas Schwann, den Satz aufstellte, daß der thierische Körper aus einer unendlichen Masse kleiner bläschenförmiger mikroskopischer Gebilde, die sich an einander legen und gegenseitig breit drücken, den sogenannten thierischen Zellen, bestehe. Seit dieser Zeit wurde der Erforschung jener kleinsten Formentheile eine immer größere Sorgfalt zugewandt und die Lehre von den Zellen zu einer vollkommenen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_062.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)