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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

sie verschwand plötzlich aus dem Gewimmel der Parteien; ein Irrenhaus der Vorstadt Saint Marceau hatte sie aufgenommen. Dort schrieb sie einen Brief an Saint-Just, an dem Abende des 9. Thermidor, der später unter den Papieren der Anstalt aufgefunden wurde; sie schrieb ihm, daß sie im Besitze wichtiger Geheimnisse sei, daß er zu ihr kommen möge; sie stellte sich als Opfer einer Intrigue hin; sie müsse zu Grunde gehen, wenn sie nicht handeln, nicht schreiben könne. In diesem Briefe zeigt sich ein krankhafter Ehrgeiz; es ist der alte Thatendrang, aber seine Federn sind gesprungen. Krampfhaft klammert sie sich an eine Vergangenheit, die für die geistig Gebrochene längst verschollen ist. Im Jahre 1807 wurde sie nach der Salpetrière gebracht. Die Stichwörter der Revolution waren unter dem Kaiserreiche längst ausgelöscht und gebrandmarkt, aber in der einsamen Zelle des Irrenhauses lebte noch die Schreckenszeit. Diese Théroigne war das Gespenst der Revolution. Sie nannte Alle, die sich ihr näherten, Gemäßigte und Royalisten und drohte ihnen mit einer Anklage bei dem Wohlfahrtsausschusse. Diese Drohung stieß sie besonders gegen eine hochgestellte Persönlichkeit aus, welche sie 1808 besuchte und welche früher ein Haupt der Volkspartei gewesen war. Anderen entgegnete sie auf ihre Fragen mit dumpfer Stimme, sich in ihren Mantel hüllend: „Ich weiß nicht; ich habe vergessen,“ und murmelte dann die Schlagwörter ihrer Jugend: „Freiheit, Comité, Revolution, Decret!“ Immer erschien sie in Gedanken versunken und wollte nicht in ihren müßigen Betrachtungen gestört sein, besonders in späteren Jahren, als sie stiller geworden war und ihre Tobsucht nachgelassen hatte. Ein wunderbarer Anachronismus, dieses irre Weib, für welches die längstbegrabene Revolution noch am Leben war; ihr Wahnsinn war gleichsam das letzte Echo derselben.

Und als ob ein verzehrendes Feuer in ihren Adern brennte, als ob der vulcanische Genius, dessen Krater längst verschüttet waren, noch in ihr fortglühte, konnte sie nicht Wasser genug finden, um ihre innere Hitze zu kühlen. Jedes Gewand verschmähend, lebte sie in der feuchten Zelle, sich selbst, ihr Bett und den Fußboden mit Wasser übergießend. Sie verschlang alles, was ihr in die Hände kam, und wie zum wilden Thier geworden, biß sie einmal ihre Gefährtinnen. In einem lichten Augenblick rief sie zum Fenster heraus einem Nachbar zu, daß sie in ungerechter Haft gehalten werde. In der That wurde ihr Zustand noch einmal untersucht, doch ihr völliger Wahnsinn blieb zweifellos und man konnte sie nicht in Freiheit setzen. Sie starb am 9. Mai 1817 im achtundfünfzigsten Lebensjahre.

Von allen namhaften Frauen der Revolution ist sie die wildeste und schrecklichste. Der böse Dämon der Zeit hat sich in ihr verkörpert. Und doch fühlt man ein menschliches Rühren, wenn man an ihre Jugend denkt, an den schönen grausam zerstörten Traum ihrer Liebe. An dem Einen wie an Allen sich zu rächen, die solchen Frevel für ein Vorrecht halten, stürzte sie sich in die Stürme der Revolution, mit unerschrockenem Muth, soldatischer Tapferkeit, aber auch grausamer Unerbittlichkeit. Schön und leidenschaftlich, gewandt in Wort und Schrift, stets zur kühnen That bereit, hätte sie ein besseres Loos verdient, aber, wie die nachtwandelnde Lady Macbeth sagt, alle Wohlgerüche Arabiens waschen die Flecken nicht ab von ihrer Mörderhand, und so bleibt sie dem Gericht der Nachwelt verfallen.




Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
Von C. Michael.
(Fortsetzung.)


3. „Ich habe keine Zeit.“

Wenn wir alle nutzlos und genußlos vergeudeten Stunden unseres Lebens zusammenzählen könnten, wir würden gewiß entsetzt ausrufen: „Unmöglich!“ Wir würden ohne Zweifel finden, daß es Jahre sind, die wir rein verschwendet haben, und dabei hatten wir doch so oft „keine Zeit“ für die dringendsten Geschäfte!

Der größte Verschwender ist der, welcher den Groschen und Pfennig nicht achtet. Wer beständig bei den täglichen kleinen Ausgaben denkt: es sind ja doch nur ein paar Mark oder Pfennige, wird sicher mehr verschwenden, als der, welcher bei diesen kleinen Posten spart und wirklich einmal für Vergnügen oder Luxus mehrere Thaler ausgiebt. Genau so verhält es sich mit der Zeit. Wer alle Minuten streng zu Rathe hält, kann ruhig ab und zu einige Stunden seiner Erholung, seinem Vergnügen widmen, ohne ein Zeitverschwender zu sein. Wie oft denken wir Frauen z. B.: Es sind ja noch zehn Minuten bis zur Essensstunde; da wirst du nicht erst eine neue Arbeit beginnen! Man nimmt also ein Buch zur Hand und blättert darin, ohne ordentlich zu lesen; man sieht zum Fenster hinaus; man geht unbeschäftigt von einem Zimmer in’s andere, um diese paar Minuten vorübergehen zu lassen. Das thue ich niemals. Wenn meine Küche bestellt und der Tisch gedeckt ist, so sehe ich gar nicht erst nach der Uhr, sondern nehme meine Näh-, Strick- oder Schreiberei, oder was ich sonst zu thun habe, mit demselben Ernst vor, als sollte ich stundenlang bei der Arbeit bleiben. Oft ertönt allerdings die Tischglocke, wenn ich kaum die Nadel eingefädelt, die Feder eingetaucht habe, aber wie oft ist es auch geschehen, daß mein Mann eine unerwartete Abhaltung bekam und nicht gleich zu Tisch kommen konnte und daß ich so ein sehr großes Stück in einer Arbeit fertig brachte. Hätte ich sie aber gar nicht angefangen gehabt, so hätte ich von Minute zu Minute gedacht: „Jetzt muß er aber gewiß gleich kommen!“ und die halbe Stunde wäre ebenso verloren gewesen, wie die ersten fünf Minuten. Oder es wird Besuch erwartet, der jeden Augenblick eintreffen und mich unterbrechen kann. Was schadet es? Ich setze eben meine Beschäftigung ruhig fort, bis zu dem Moment, wo die Gäste eintreten. Wie oft schon ist dieser Augenblick der Störung eine, ja zwei Stunden später gekommen, als ich geglaubt hatte, und ich hatte meine Zeit nicht in ungeduldigem, gelangweiltem „Warten“ vertrödelt.

Peinliches Ausnutzen jeder Minute ist mein erstes Gesetz zu richtiger Anwendung der Zeit, und das zweite lautet: „Thue Alles, was Du vornimmst, so gut und vollkommen wie möglich und bemühe Dich, aus jeder Beschäftigung Nutzen für Dich oder Andere zu ziehen! Dann wird keine Deiner Lebensstunden eine verlorene sein.“

Keine größere Zeitverschwendung giebt es, als etwas lüderlich oder nur halb zu thun; man muß es ja dann so bald wieder verbessern und die verlorene Zeit noch einmal daran wenden. Aber nicht nur von der Arbeit gilt diese Lehre (da ist sie ja einleuchtend und selbstverständlich), nein, von jeder Beschäftigung und selbst von jedem Vergnügen.

Wenn du spazieren gehst, so gehe gleich hübsch weit hinaus, daß die Bewegung dir auch Nutzen bringt; wenn du bei Tisch sitzest, so nasche nicht blos von den Speisen, sondern iß dich ordentlich satt und denke dann nicht wieder an’s Essen, ehe die nächste Mahlzeit kommt; wenn du dich anziehst, so binde und stecke gleich Alles ordentlich fest, wie es den ganzen Tag über bleiben kann; wenn du ein Buch liest, blättere nicht blos darin, sondern lies mit Aufmerksamkeit; wenn du dich an’s Clavier setzest, so klimpere nicht auf den Tasten herum, sondern übe und spiele mit Ernst und Ausdauer – ja, wenn du eine bestimmte Zeit dem Vergnügen gewidmet hast (jeder Mensch bedarf dessen, und darum ist es ebenso wenig Zeitverschwendung, wie der Schlaf eine solche ist), so suche eine Art der Zerstreuung, die dir auch wahren, befriedigenden Genuß verschafft, und genieße sie dann ohne Rückhalt, in vollen Zügen! Vorausgesetzt, daß du wirklich nur edle und reine Genüsse für deine Erheiterung gewählt hast, wird auch diese Zeit wohl angewendet zu nennen sein.

Also: Was du immer thust, thue es ganz, und so vollkommen wie möglich! Damit sparst du unglaublich viel Zeit.

Oft sind wir durch die hergebrachten gesellschaftlichen Formen scheinbar gezwungen, einige Stunden unserer Zeit zu verlieren, aber auch da giebt es einen Ausweg. Ich habe es stets so gehalten: Erstens beschränkte ich den rein conventionellen Umgang auf’s Nöthigste und nahm Einladungen solcher Gattung nur in den dringendsten Fällen an. Trotzdem that es mir im Anfange stets entsetzlich leid um so einen langen, langen Abend, den ich in uninteressanter, gleichgültiger Gesellschaft verlebt hatte. Aber bald hatte ich zweierlei Auswege gefunden,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_054.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)