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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

kostete 15,000 Mark, eine große Summe, groß zumal, da sich schon nach einmaligem Gebrauche Ausbesserungen nöthig machten. Die Gesammtkosten der schönen und für viel größere Städte ausreichenden Leichenhalle betrugen 87,000 Mark. Der Ausschuß des „Vereins für Leichenverbrennung“ in Gotha, bestehend aus dem Vorsitzenden Landrath Ewald und den Ausschußmitgliedern Senator Düll, Medicinalrath Mensel, Baurath Scherzer, Justizrath Sterzing, Hofapotheker Tannenberg, Kaufmann Wolf und Kreisgerichtsrath Ziegler, hat seine Pflichten wohl erfüllt und durch die erste Feuerbestattung gegen den verstorbenen Genossen Ingenieur Stier eine Dankesschuld abgetragen.

Die Gesammtkosten einer Feuerbestattung in Gotha werden sich nach den mündlichen Mittheilungen des Herrn Bürgermeister Könersdorf auf 70 bis 80 Mark belaufen, worin der Selbstkostenpreis für den Bedarf an Kohlen, die Vergütung für Bedienung und Abnutzung des Apparates etc. inbegriffen ist. Die Särge dürfen nicht länger sein als 2,25 Meter, nicht breiter als 0,75 Meter und nicht höher als 0,72 Meter. Die Urnen für die Urnenhalle sollen höchstens die Gesammthöhe von 0,80 Meter und den Gesammtdurchmesser von 0,40 Meter haben.

Jedermann, auch der Auswärtige, darf in Gotha durch Feuer bestattet werden, wenn zuvor den polizeilichen Verordnungen genügt wird. Diese fordern eine schriftliche Genehmigung der Ortspolizeibehörde, welche nachweist, daß entweder von dem Verstorbenen selbst oder von denjenigen Personen, welche für die Bestattung zu sorgen haben, die Feuerbestattung gewählt worden ist. Ferner muß der Physikus auf Grund der Besichtigung der Leiche schriftlich bescheinigen, daß kein Verdacht des Todes durch verbrecherische Thätigkeit eines Dritten vorliege, sowie auch Seitens der Ortsbehörde actenmäßig durch Erörterung der Umstände, unter welchen die zu bestattende Person verstorben ist, dasselbe Ergebniß festgestellt worden sein muß. Diese Vorsichtsmaßregeln gewähren volle Sicherheit dafür, daß nicht etwa die Feuerbestattung zum Deckmantel des Verbrechens benutzt werde. – –

Der Feuerbestattung in Gotha gingen drei Leichenverbrennungen voraus, welche nur ausnahmsweise gestattet waren: 1) die von mir in Breslau bei Gelegenheit der „Naturforscher-Versammlung“ am 22. September mittelst eines besonders construirten (und in seinen Einzelheiten noch nicht bekannt gemachten) Apparates mit erhitzter Luft ausgeführte; 2) in Dresden die Bestattung der Lady Dilke am 9. October 1874 und 3) diejenige der Gattin eines Stuttgarter Arztes am 9. October 1874. – Nach der Feuerbestattung in Gotha wurden daselbst sofort zwei weitere angemeldet.

Prof. Dr. C. Reclam.




Abnorme Kinder.


Von J. Moldenhawer, Director des königl. Blindeninstituts zu Kopenhagen.


(Schluß.)


Der blinde Taubstumme.


Welch Unglück, wenn ein Kind blind und zugleich auch taub ist! Und doch ist es möglich, auch diesen Aermsten eine menschenwürdige Existenz zu schaffen, indem moralische und religiöse Begriffe und Brauchbarkeit zu irgend einer Wirksamkeit ihnen beigebracht werden können.

Da die Anzahl solcher Kinder nicht groß genug ist, um die Errichtung besonderer Anstalten zu veranlassen, sind die einzelnen Fälle, in welchen dieselben Unterricht erhalten haben, entweder in Blinden- oder in Taubstummenanstalten vorgekommen. Einige dieser Versuche sind sehr bekannt geworden, da sie in pädagogischer und psychologischer Beziehung von nicht geringem Interesse sind. Die am meisten bekannten sind: die beiden im Blindeninstitute zu Boston unter Leitung Dr. Samuel Howe’s erzogenen taubstummen Blinden, namentlich die oft genannte Laura Bridgman (über deren Unterricht die „American notes“ von Charles Dickens interessante Mittheilungen enthalten), der im Blindenasyle zu Lausanne von Director Hirzel ausgebildete taubstumme blinde Kunstdrechsler Edouard Meystre, der von Director Borg im Manilla-Institute bei Stockholm unterrichtete Korbmacher Magnus Olsson und der vom verstorbenen Blindenanstaltsdirector Dr. Georgi in Dresden zur Wirksamkeit und zum Verkehr mit Andern angeleitete Max Alfons, der alle Sinne bis auf den Tastsinn verloren hatte.

Beim Unterricht Edouard Meystre’s, mit dem ich mich während eines Aufenthaltes in Lausanne 1854 näher bekannt machte, benutzte man nicht nur die Fingersprache, welche der Schüler mittels des Tastsinnes auffaßte, sondern zugleich die mündliche Rede, indem der Lehrer seine Sprachwerkzeuge, sowohl Kehle wie Mund, vom taubstummen Blinden befühlen ließ, damit dieser bemerken konnte, auf welche Weise die verschiedenen Laute hervorgebracht werden, und ihn so dahin brachte, daß er dieselben nachahmte und ein seiner Umgebung verständliches Französisch redete. Die Consonanten sprach er am besten aus; die Vocale von einander zu unterscheiden, fiel ihm schwer. Da er wegen seiner Blindheit nicht wie andere Taubstumme von den Lippen ablesen konnte, mußte man, wenn man sich mit ihm unterhielt, die Fingersprache benutzen oder mit dem Finger ihm auf den Rücken schreiben. Er las und schrieb erhabene Schrift wie ein Blinder, orientirte sich mittels des Tastsinnes und machte Handarbeit auf dieselbe Weise wie die Blinden, in geistiger Beziehung aber hatte er mit den Taubstummen am meisten gemein. Unter dem Titel „A happy man“ (ein glücklicher Mensch) hat der schweizerische Naturforscher Professor Morlot einen Artikel über ihn in Chamber’s Journal für Juli 1855 veröffentlicht.

Eines eigenthümlichen Falles aus meinem Erfahrungskreise sei hier gedacht. Ein siebenjähriges Mädchen verlor auf einmal Gesicht und Gehör und war nahe daran, taubstumm zu werden, indem seine Rede beständig undeutlicher wurde, sodaß nur die Mutter es einigermaßen verstehen konnte. Das Kind war in beständiger Unruhe, sprach viel und schnell und fühlte starkes Verlangen nach Beschäftigung und geistiger Nahrung. Da brachte die Mutter dasselbe zu mir und fragte, was hier zu thun sei. Das Erste, worauf ich die Aufmerksamkeit richtete, war, dem Kinde die Rede zu retten und womöglich zu verbessern. Da es wegen der Taubheit den gewöhnlichen Regulator der Aussprache, das Ohr, vermißte, und wegen der Blindheit des von den Taubstummen benutzten Hülfsmittels, die Bewegungen des Mundes zu beobachten, entbehrte, ergriff ich das einzige mir zu Gebote stehende Mittel, nämlich das Lesen vom Reliefdruck. Indem das Mädchen sich durch die Wörter hindurch buchstabirte und auf diese Weise deren Bestandtheile im Bewußtsein festhielt, wurde es allmählich dahin gebracht, daß es die Wörter deutlicher aussprach und von einander trennte. Zugleich war ihm durch das Relieflesen zu einer neuen und nützlichen Beschäftigung die Möglichkeit geworden, welche es mit wahrem Entzücken ergriff.

Ich habe bisher nur von Blinden und Taubstumme gesprochen. In das Capitel der „abnormen Kinder“ aber gehört noch eine Kategorie, der ich im Anschlusse an das Bisherige einen letzten Abschnitt widmen möchte; ich meine die Schwachsinnigen.


Der Schwachsinnige.


Lange nachdem man angefangen hatte, für die Erziehung und den Unterricht taubstummer und blinder Kinder Etwas zu thun, hatte man noch nicht daran gedacht, daß die Gesellschaft auch dem schwachsinnigen Kinde gegenüber Pflichten habe. Man ließ (und läßt zum Theil noch heutzutage) solche arme Kinder in einem völlig verwahrlosten Zustande aufwachsen, sodaß sie oft in einer Irrenanstalt oder in einem Unterkunftshause für arbeitsunfähige Menschen ihr Leben endigten. Es giebt Gegenden, wo Blödsinnige und Cretins schlechter behandelt werden als irgend ein Thier, aber selbst da, wo dies nicht der Fall, ist es schon traurig genug, daß menschliche Wesen ohne geistige Entwickelung, ohne Begriff von etwas Höherem als den materiellen Seiten des Lebens, oder wenigstens ohne die in ihnen niedergelegten Fähigkeiten und Anlagen gebrauchen zu können, das Leben durchwandern sollen. Indeß ist man doch in mehreren Ländern jetzt so weit gekommen, daß eine große Anzahl schwachsinniger Kinder Unterricht bekommt, und bei uns sucht man in neuerer Zeit dahin zu wirken, daß der Staat sich der Sache annehme, um allen schwachsinnigen Kindern im Lande eine ihrem Zustande angepaßte Behandlung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_049.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)