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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

nicht seine Befähigung oder die Verhältnisse in der Heimath dagegen sind. So sitzt mancher Knabe schon im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren als eifriger Korbmacher oder Schuster da, oder schreitet, mit Hanf umgürtet, rücklings die Seilbahn entlang, während er den langen Faden spinnt.

Diese frühzeitige Beschäftigung mit derjenigen Arbeit, die ihm späterhin seinen Lebensunterhalt verschaffen soll, setzt ihn nicht nur in den Stand, größere Uebung zu erhalten, als sonst möglich wäre, sondern weckt auch in ihm eine gewisse Liebe zum Handwerk und jenen Ernst, der für den Zweck der Blindenanstalt, die Blinden zu selbstständigen, selbstthätigen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen, von großer Bedeutung ist. Wie wäre es auch ohne eine solche frühzeitige Einführung möglich, daß Blinde im Alter von siebenzehn bis neunzehn Jahren, nach Beendigung ihrer Ausbildung in der Blindenanstalt, ihr Handwerk ganz selbstständig betreiben und nach Verlauf einiger Jahre es so weit bringen, daß sie sich selbst und bisweilen sogar eine Mutter oder Schwester, oder Frau und Kinder ernähren können.

Vor allen Dingen kommt es darauf an, daß der Blinde die Anstalt nicht eher verläßt, als bis er sein Handwerk so vollständig erlernt hat, daß er es ganz auf eigene Hand betreiben kann. Die Erfahrung lehrt, daß es nicht rathsam ist, einen Blinden bei einem Meister in die Lehre zu geben. Selbst nachdem er sein Handwerk in der Anstalt erlernt hat, ist es ein schlechter Ausweg, ihn bei einem sehenden Meister arbeiten zu lassen, weil er hierdurch gehindert wird, vorwärts zu streben; während ein solches Verhältniß für den Sehenden eine natürliche Vorbereitung zur Selbstständigkeit ist, wird es für den Blinden dasselbe, wie wenn man dem Vogel die Flügel stutzt. Darin liegt überhaupt die größte Schwierigkeit in der Blindenerziehung und der ganzen Blindenfürsorge, daß der Blinde in die gewöhnlichen Verhältnisse des Lebens nicht recht hineinpaßt und doch wo möglich draußen im Leben einen Platz finden soll. Es fällt den meisten Menschen schwer, ausfindig zu machen, auf welche Weise sie den Blinden am besten stützen können, und es geschieht leicht, daß sie entweder zu viel oder zu wenig für ihn thun. Da liegt denn für den Blinden die Versuchung nahe, entweder zu empfangen ohne Hinreichendes dafür zu leisten, oder den Muth zu verlieren und den Kampf aufzugeben, weil ihm die nothwendige Stütze fehlt. Die beiden Gefühle, die dem Blinden gegenüber am leichtesten erweckt werden: Mitleid wegen des so augenfälligen Mangels und Zweifel an seiner Brauchbarkeit, sind zugleich diejenigen, welche ihm am meisten schaden. Mancher giebt dem Blinden gern ein reichliches Almosen, und manche Dorfbehörde findet es ganz in der Ordnung, wenn der junge Blinde zum Armenhause seine Zuflucht nimmt; werden aber, um die Selbstthätigkeit des Blinden zu fördern, an die Barmherzigkeit Ansprüche gemacht, dann ist es ein dorniger Pfad, den der Blinde betreten muß, dann kommt es darauf an, daß er einen festen Halt in sich habe, und daß das Ehrgefühl stark genug sei, um ihn im Kampfe aushalten zu lassen. Hier sind wir an den Hauptpunkt in der Blindenerziehung gekommen, an dasjenige, ohne welches die ganze Arbeit umsonst ist: – gelingt es nicht, eine starke Willenskraft und ein lebhaftes Ehrgefühl in dem jungen Blinden zu wecken, sodaß er es für eine Schande ansieht, auf Kosten Anderer zu leben, dann wird er eine Beute der zwischen dem Mitleide und der Geringschätzung geschlossenen Alliance.

Unter den Mitteln, welche die Blindenanstalt benutzt, um ihren Zögling dahin zu führen, sich in der Welt zu bewegen, muß man neben dem bildenden Einflusse der Schule und der praktischen Ausbildung in erster Reihe die Gymnastik nennen. Das blinde Kind, welches in der Heimath oft verwahrlost worden ist und das Beispiel Anderer nicht beachten kann, bedarf in höherem Grade, als das sehende Kind, die Anleitung und Uebung in Körperbewegungen und Haltung. Bei uns haben daher sowohl Mädchen wie Knaben gymnastische. Uebungen, die kleineren Knaben während der Wintermonate sogar täglich eine Stunde. Im Sommer wird ein Theil der Turnstunden für Knaben zum Schwimmunterricht verwendet. Auch Tanz gehört bei uns zum Turnunterrichte, und sämmtliche Zöglinge haben darin, in drei Abtheilungen (zwei für Knaben, eine für Mädchen) getheilt, je eine Stunde wöchentlich. Bei festlichen Gelegenheiten wird lustig getanzt, und dem, der es zum ersten Male sieht, ist es auffallend, zu beobachten, wie der ganze Saal von tanzenden Paaren wimmeln kann, ohne daß sie gegen einander stoßen; der Flug der Fledermäuse fällt einem dabei ein.

Wie oft hört man die Ansicht aussprechen, alle Blinden seien musikalisch! Das ist vollkommen irrig, da es viele Blinde giebt, die ganz ohne Sinn für Musik sind. Der Irrthum rührt aber davon her, daß es eine relativ große Anzahl von Blinden giebt, die nicht nur Freude daran haben, Musik zu hören, sondern auch Lust haben, selbst singen und spielen zu lernen, und denen es leicht fällt, sich Melodien und Harmonien anzueignen. Wenn der Blinde Musik treibt, giebt er sich ihr gewöhnlich mit ganzer Seele hin, und dieser Umstand kann, richtig benutzt, zur Erreichung guter Resultate wesentlich beitragen; andererseits aber liegt darin auch die Gefahr, daß der Blinde die Musik als Spielerei ohne rechten Ernst betreibt und daß er ohne hinreichendes Talent sie zu seinem Hauptzwecke macht. Ein vorzügliches Mittel, um den blinden Musikschüler selbstständig arbeiten zu lassen, ist die vom blinden Louis Braille in Frankreich erfundene Reliefpunktschrift, die nicht nur die Buchstaben, Interpunctionszeichen, Zahlen und mathematische Zeichen, sondern auch ein vollständiges Notensystem umfaßt.

Während diese Punktschrift vollkommen dazu ausreicht, eine für den Blinden leserliche Schrift darzustellen – zu schriftlichen Aufsätzen, Notizen, Correspondenz mit anderen Blinden, Abschreiben von Lesestücken, Gedichten und Musikalien und zum Componiren – bedarf es zur Correspondenz mit Sehenden einer andern Schrift. Für diesen Zweck wird bei uns der hier erfundene Guldberg’sche Schreibapparat benutzt. Auf diesem kleinen und billigen Apparate kann der Blinde mittelst einer Bleifeder eine kalligraphische und deutliche lateinische Schrift hervorbringen. Der Schreibunterricht auf diesem Apparate ist von pädagogischem Interesse, weil der Schüler daraus dieselben Buchstabenformen hervorbringt, die er bereits aus den Reliefbüchern kennt, und, um sie richtig zu bilden, sie sich vorher vergegenwärtigen muß – es ist also keine mechanische Arbeit, die er ausführt. Mittelst dieser Schrift kann der Blinde Rechnungen, Gesuche u. dergl. selbst schreiben; sie erleichtert in hohem Grade die Verbindung der Zöglinge mit der Heimath während ihres Aufenthaltes in der Anstalt, und nach dem Austritte aus derselben können sie, ohne Mittelspersonen zu gebrauchen, mit ihren früheren Lehrern und Lehrerinnen schriftlich verkehren. Ein solches eigenhändiges Schreiben tritt Einem ja auch auf eine weit persönlichere Weise entgegen, als ein von einer dritten Person geschriebener Brief. Der in Deutschland erfundene Hebold’sche Schreibapparat dient demselben Zwecke.

Es ist einleuchtend, daß es beim Handarbeits- und Handwerksunterrichte der Blinden einer wirklichen Anleitung bedarf, sodaß der Lehrling entweder nachfühlt, wie die Hand des Lehrers die Arbeit ausführt, oder seine Hand von ihm führen und leiten läßt; bisweilen aber bedarf es auch besonderer Hülfsmittel, damit der Blinde die Arbeit befriedigend ausführen kann. Wir sind dabei stets von dem Grundsatze ausgegangen, daß man dem Blinden nicht andere Hülfsmittel gewähren darf als solche, die er auch später benutzen kann. Darum verwerfen wir den Gebrauch von Modellen für den Korbmacher; er sowohl als der Seiler und Bürstenbinder benutzen ganz dieselben Geräthe wie sehende Handwerker; die Schuhmacher hingegen haben besondere Hülfsmittel, die hier construirt sind und mit denen jeder blinde Schuster beim Austritte aus der Anstalt versehen wird. Mittelst dieses Werkzeuges wird er in den Stand gesetzt, mit derselben Genauigkeit wie der sehende arbeiten zu können. Die Bürstenbinderei wird sowohl von Mädchen wie von Knaben gelernt und dient oft als Nebenarbeit für den blinden Musikschüler.

Unter den übrigen hier in der Anstalt betriebenen Arbeiten verdient angeführt zu werden, daß einige unter den Mädchen auf der Nähmaschine nähen und die feste Nadel selbst einzufädeln lernen. Für männliche Blinde ist das Clavierstimmen ein sehr zweckmäßiger Erwerb, welcher namentlich für blinde Organisten in Provinzialstädten einen guten Nebenverdienst abgiebt; mitunter wird es auch Haupterwerb des Blinden.

Nach beendigtem Tagewerke haben die Zöglinge von halb acht Uhr bis neun Uhr – vom Abendessen bis zur Abendandacht – frei. Nach der kurzen Abendandacht gehen die meisten Zöglinge zu Bette; nur den Aeltesten ist es erlaubt, bis zehn Uhr aufzubleiben, wenn sie sich still beschäftigen.

In den freien Abendstunden kann man, wenn man die Stuben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_035.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)