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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)


und der Menschenliebe. Als strenggläubiger Jude würde Nathan am allerwenigsten eine solche Weltreligion der Menschenliebe gelehrt haben.

Der Lehrer dieser Religion ist aber der Dichter, ist Lessing selbst. Man hat Lessing’s Freund, Moses Mendelssohn, zum Vorbild für den Nathan machen wollen. Eines solchen Vorbildes bedurfte aber Lessing nicht, und jene Annahme ist allein darauf zurückzuführen, daß Lessing, da er den „Nathan“ schrieb, einen Moses Mendelssohn schätzte und liebte. Daß Lessing der jüdischen Religion denselben Vorwurf der Intoleranz machte, beweisen hinlänglich die Worte, welche er im „Nathan“ (2. Act, 5. Auftritt) dem jungen Tempelherrn in den Mund legt, über die Unduldsamkeit des jüdischen Glaubens, des jüdischen Volkes,

 „seines Stolzes,
Den es auf Christ und Muselmann vererbte:

1295
Nur sein Gott sei der rechte Gott.“

Dies ist des Dichters eigener Gedanke, der denn auch selbst wieder, in der Person des Nathan, darauf antwortet:

 „Was heißt denn Volk?

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Sind Christ und Jude eher Christ und Jude,

Als Mensch?“

Sehr richtig aber hat Moses Mendelssohn geurtheilt, wenn er sagte, daß gerade der Christenheit Lessing’s Stück zur höchsten Ehre gereiche; denn ein Volk, in welchem sich ein Mann zu dieser Höhe der Gesinnungen hinaufschwingen konnte, mußte auf der höchsten Stufe der Aufklärung und der Bildung stehen.

Wenn wir, von der großen, erhabenen Tendenz absehend, die hell und klar wie die Sonne aus Lessing’s Dichtung uns entgegenstrahlt, den dramatischen Gehalt derselben prüfen, so können wir getrost zugeben, daß im „Nathan“ der eigentliche dramatische Pulsschlag kein besonders starker ist. Die ganze von Lessing erfundene Handlung besteht in den Verwandtschaftsverwickelungen oder vielmehr in der Lösung derselben; denn die Bedrohung Nathan’s durch den Patriarchen bringt, weil ohne Folgen dastehend, kaum eine stärkere Bewegung in die Sache. Aber auch die Verwickelung und Aufklärung der verschiedenen verwandtschaftlichen Beziehungen, obschon sie vortrefflich, wie die ganze Gruppe von Charakteren, der einen großen Idee des Dramas dient, hat an sich wenig Dramatisches oder Poetisches, so sehr sich auch in der Ausbeutung, in der lebendigen Farbe des Ganzen der wahrhafte Dichter zeigt. Mehr freilich noch in der vollendeten und lebensvollen Darstellung der Charaktere. In diesen Charakteren liegt der Schwerpunkt des Ganzen, nicht in der fortschreitenden Handlung. Diejenigen Scenen, welche unser Gemüth am stärksten bewegen, üben diese Wirkung durch die große Kunst des Dichters, mit der er den tiefsten geheimsten Empfindungen seiner Personen den ergreifendsten Ausdruck zu geben weiß.

Wo uns solche Schätze dargeboten sind, wäre es nicht thöricht, da zu sagen: Wir verlangen dafür etwas Anderes, wollen erschütternde Spannung und Aufregung, nicht das Labsal dieses reinen, erhebenden und läuternden Erquickungstrankes? Daß dieser ruhige, geräuschlose Gang der Handlung zu der Tendenz des Gedichtes vollkommen stimmt, darüber war sich Lessing selbst von vornherein vollkommen klar, und daß die Composition einer lebhafteren, schnell fortschreitenden Handlung nicht außerhalb seiner dramatischen Befähigung lag, sehen wir ja an „Emilia Galloti“. Aber ein Werk, das uns von den nichtigen Außendingen dieser Welt so ganz auf unser Innerstes, auf unsere reinste Menschlichkeit zurückführt, konnte und mußte sogar durch einen gemesseneren Gang auf unser Empfinden wirken. Nicht gewaltige Felsennatur, nicht stürzende Gewässer und brausende Stürme sind es, was uns hier umgiebt, sondern wir wandeln in einem heilig-stillen Haine, dessen hohe und leise sich bewegende Wipfel in den Himmel zu ragen scheinen.

David Friedrich Strauß hat Recht, wenn er in einer Vergleichung des „Nathan“ mit Mozart’s „Zauberflöte“ diese beiden Werke als schon „aus einer bessern Welt stammende Schöpfungen“ ihrer dem Heimgange nahen Schöpfer bezeichnet. Und wahrlich, wie vielen Patriarchen und andern Christenmenschen seit hundert Jahren auch Lessing’s „Christlichkeit" Scrupel gemacht hat: das reine Christenthum, diese Religion der Liebe, hat noch keine größere und beredtere Verherrlichung gefunden, als durch den Dichter des „Nathan“.




Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
Von C. Michael.
1. Der Mutter Stufenjahre.

Kürzlich hörte ich von einer jungen Frau, die seit wenig Wochen glückliche Mutter war, die Aeußerung: „Es ist doch wunderbar, wie vollständig solch ein kleines Wesen unsere ganze Welt verändert! Viel, viel mehr, als es das Heirathen gethan hat. Der Schritt von der Frau zur Mutter ist noch viel bedeutender, als der vom Mädchen zur Gattin.“

Wie sehr hat sie Recht, die junge Mutter! In ihrem ganzen Leben hat eine Frau nie so viel Neues auf einmal zu lernen, wie in den ersten Wochen ihrer neuen Mutterwürde. Jede Person, die sich ihr nähert, spricht nur von kleinen Kindern, sodaß sie binnen vierzehn Tagen die Leiden und Freuden von vielleicht einem halben Hundert Wöchnerinnen herzählen hört. Es wird nach allen Richtungen hin die Pflege und Ernährung des kleinen Neugebornen besprochen, und von der alten Waschfrau an bis zur eleganten Freundin in der Seidenschleppe bringt jede Frau andere Erfahrungen und Beispiele an das Bett der jungen Mutter.

Wenn sie zum ersten Male wieder eine Zeitschrift in die Hand nimmt, ruft gewiß Jemand im Zimmer: „Du, da hinten steht ein interessanter Artikel über Ammen!“ Wird die Zeitung gebracht, so kann man darauf wetten, das junge Mütterchen schlägt sofort die Geburtsanzeigen auf, und es interessirt sie lebhaft von allen diesen wildfremden Frauen, ob sie Knaben oder Mädchen bekommen haben, und wie viele dieser Eltern von dem Ereigniß „hoch erfreut“ sind, wie viele andere es blos „ergebenst anzeigen“. Dies Alles ist von höchstem Interesse. Hat man es gelesen, so wird die Zeitung zugeklappt und weggelegt. Was könnte denn sonst noch darin stehen? – Die Welt ist ja doch nur dazu erschaffen, daß in ihr Babies geboren werden; was später aus allen diesen Säuglingen wird, ob sie sich verloben, heirathen und sterben, ob sie mit einander Krieg führen oder Frieden schließen – wie gleichgültig ist all dies einer Mutter, die ihr erstes Kindlein im Arme hält! – Aber langsam, ganz unmerklich rückt eine andere Zeit heran.

Wir meinen jetzt, die ganze Welt geht in die Schule und wird erzogen. Da ist so ein Zeitabschnitt von zehn bis zwölf Jahren im Leben unserer Kinder, wo die erste Frage, die man an neue Bekannte richtet, lautet: „In welche Schule schicken Sie Ihre Knaben?“ oder: „Haben Sie eine Erzieherin für Ihre Mädchen?“ Das Jahr wird nur nach den regelmäßig wiederkehrenden Prüfungen und Ferien gemessen.

„Wann ist der oder jener Besuch bei Euch gewesen?“ fragst Du, und die Antwort lautet:

„Gleich nach den Osterferien.“

„Wann hatten denn die Kinder die Masern?“

„Kurz vor den Herbstferien, also Anfang September.“

Es ist sonderbar! In dieser Zeit haben auch alle Leute, mit denen man verkehrt, schulpflichtige Kinder! Oder ist es umgekehrt? Verkehrt man nur mit solchen, die welche haben?

Ich weiß es nicht; ich weiß nur, daß die gleiche Spannung auf die nächsten Censuren, der gleiche Jammer über blässer und magerer werdende Kinder, dasselbe Schwanken zwischen Instituten und Hauslehrern wie bei uns in jedem Hause herrscht. Die ganze Welt ist eine einzige große Schule, in der alle Menschen sich blos in Lehrende und Lernende theilen. Und diese Periode ist vielleicht die Krone des Mutterlebens.

Noch halten wir das Schicksal der geliebten Kinder zum größten Theil in eigener Hand. Wenn es auch viele Sorge und Mühe kostet, man sieht doch täglich, ja stündlich die Resultate dieser Mühen! Man kann Alles ändern, was Einem fehlerhaft dünkt, und welche Befriedigung, wenn solche Aenderung sichtlich von gutem Erfolg gekrönt sein wird! Von Tag zu Tag

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_008.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)