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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


hatte, das Hünenweib vom Boulevard Saint-Michel; wenn diese unvergleichliche Dame klappernd und schreiend am Luxembourg-Garten vorüberwallte, so klirrte das Gitter.

Auch der Pariser Straßenjunge ist typisch. Unbekümmert um den Lärm und das Gedränge der Passanten betreibt er sein dolce far niente, wo immer sich eine Rampe oder ein Prellstein oder eine öffentliche Bank ihm darbietet. Läßt sich auf dem Trottoir der minder belebten Straßen der nöthige Raum erobern, so improvisirt er sein Lieblingsspiel: er wirft mit Soustücken nach einem gleichfalls durch Soustücke markirten Ziel, und bestrebt sich, den Mitspielern die Wurfgeschosse abzugewinnen. Neidisch und sehnsüchtig blickt der Laufbursche des Pâissiers, der mit seinen Kuchen- und Confecttrommeln vorüberkömmt, auf diesen köstlichen Zeitvertreib. Wehmüthig gönnt sich der Setzerjunge einen Augenblick Rast, um einen „Gang“ des interessanten Spiels zu beobachten. Beide können von Glück sagen, wenn sie zu all ihrer Wehmut nicht obendrein gehöhnt, geneckt oder gar mit Ohrfeigen regalirt werden. Aus dem Pariser Straßenjungen, diesem kecken, gescheiten, aber nur allzu oft nichtsnutzigen Bengel, entwickelt sich im Lauf der Jahre die „weiße Blouse“, die in politisch aufgeregten Zeiten haufenweise über die Boulevards schreitet und „A Berlin!“ brüllt. Auch der gerechte und vollkommene Petroleux war in der Regel ein ausgezeichneter Souwerfer.

Zum Schluß eine düstere Nachtgestalt. Wenn die Sonne längst hinter dem Arc de triomphe zur Ruhe gegangen, wenn das großstädtische Leben merklich zu ebben beginnt, dann kriecht aus seinen Winkeln in der Rue Saint Jacques und dem Quartier Mouffetard der Lumpensammler, chiffonnier auf dem Rücken den mächtigen Korb, in der Hand den Stock mit dem Haken, vermittelst dessen er aus den Kehrichthaufen, die man Abends aus allen Häusern auf den Straßendamm schüttet, die irgend verwendbaren Fetzen und Lappen mit wunderbarer Gewandtheit über die Achsel in den großen Behälter schleudert. Der Lumpensammler und die Lumpensammlerin – denn auch eine große Anzahl von Frauen liegt diesem Berufe ob – gewähren äußerlich ein unerfreuliches, mitleiderweckendes Bild, aber man täuscht sich, wenn man den Chiffonnier für einen besonders schwer überlasteten Dulder hält. Es giebt Chiffonniers, die während der drei oder vier Stunden ihrer Berufsthätigkeit vier bis fünf Franken verdienen, das heißt also genau ebenso viel, wie mancher fleißige Arbeiter während des Tages. Da der Chiffonnier überdies nicht zu repräsentiren braucht, sondern in Lumpen läuft, so kann er von dem Ertrag seiner Arbeit manchen klingenden Sou für den „Luxus“ verwenden. In der That giebt es unweit der Barriere eigene Bälle für Lumpensammler, wo es hoch hergehen soll bei Cognac und kräftigem Macon. Hier wie in der moralischen Welt besteht die alte Wahrheit zu Rechte: wer sich nicht scheut, seinen Unterhalt im Kehricht zu suchen, der kommt häufig besser fort als der „Vorurtheilsvolle“, der auf Ehre und Anstand hält. Jeder nach seinem Geschmack!



Eine ärztliche Gala-Consultation in Japan.

Während meines mehrjährigen Aufenthaltes in Japan fehlte es mir neben meiner medicinisch-chirurgischen Lehrthätigkeit an der Akademie in Tokio (Yedo) nicht an Gelegenheiten, bei welchen deutsche und amerikanische Bewohner der Fremdencolonie, mitunter selbst Patienten in dem benachbarten Yokohama, sich an meine Hülfe wandten. Der deutsche Arzt, besonders wenn er nicht blos auf gut Glück „hinauskommt“, sondern in irgend einer Form berufen wird, hat das Renommée einer gründlichen Vorbildung und größeren Gewissenhaftigkeit fast in allen überseeischen Colonien auf seiner Seite. So bleibt es nicht aus, daß die deutschen Landsleute bald einen Stamm der Patienten bilden, an den sich Amerikaner, Franzosen, Italiener, Russen, Holländer etc. – seltener Engländer – in buntem Wechsel anlehnen. Trotz dieser relativen Gewöhnung daran, Klagen in fremden Zungen zu vernehmen, sich den Bedürfnissen und Gewohnheiten der Kranken erst vorsichtig anpassen zu müssen, machte es einen eigenthümlichen Eindruck auf mich, als ich zuerst an das Lager eines vornehmen Japaners berufen wurde. Im Hospital, von Bett zu Bett gehend, von einem Schwarm deutschredender und deutschverstehender Assistenten umgeben, die nicht nur zu dolmetschen, sondern auch jedes Wort und jeden Wink auszuführen verstanden, dazu Kranken gegenüber, welche auf die an ihnen zu machenden Untersuchungen von dem Wartepersonal förmlich gedrillt wurden, konnte ich vor Mißverständnissen ungleich sicherer sein, als in einer derartigen Privatpraxis. Glücklicherweise hatte der Zufall wenigstens für eine Art von Erleichterung gesorgt: der Bruder des Kranken, welcher um den Besuch gebeten hatte, war als ehemaliger Militärbevollmächtigter an einem europäischen Hofe des Französischen vollkommen mächtig und hatte sich erboten, als Dolmetscher bei der Consultation gegenwärtig und behülflich zu sein. Trotzdem sah ich dieser Consultation, welche bei dem Ansehen und der Verbreitung der Familie, um die es sich gerade handelte, von einigem Einfluß auf mein Renommée sein konnte, mit einer gewissen Spannung und einem leisen Mißbehagen entgegen.

Um drei Uhr Nachmittags entstand auf dem Vorplatze meines Hauses ein lautes Rufen und ungewohnte Bewegung. Zwei elegante Jinrikshas (wie man die von Kulis gezogenen, auf zwei Rädern laufenden Fahrstühle nennt, welche allgemein die Stelle der Droschken vertreten) fuhren vor. Höchst ungewöhnlicher Weise waren sie nicht mit einem oder zweien, sondern je mit drei Kulis bespannt. Die eine war leer; der andern entstieg ein gesetzter ältlicher Mann in der faltigen würdigen Tracht eines mittleren Beamten, mit der ein moderner europäischer Filzhut seltsam contrastirte, um mich in wohlgesetzter Rede zu einer Consultation und zum Besteigen des leeren Gefährtes einzuladen. Wie im Wirbelwind bewegten sich, nachdem wir kaum Platz genommen, die Fahrzeuge einen steilen Hügelabhang zur Stadt hinab, und diese Schnelligkeit verminderte sich nicht im mindesten auf der gegen drei Viertelstunden langen Fahrt. Im stundenlangen Laufen leisten diese Jinriksha-Kulis geradezu Unglaubliches; man kann sicher sein, mit doppelter Bespannung und Verheißung eines etwas höheren Lohnes jeden in gewöhnlicher Fahrgeschwindigkeit dahinrollenden „Pferdewagen“ einzuholen. Und diese Geschwindigkeit ist erwünscht genug in einer Stadt, welche in ihren einstöckigen kleinen Häusern eine Bevölkerung von nahezu einer Million beherbergt und deren längste Durchmesser denen Londons sehr nahe kommen. Hier mußte eine ganz besondere Veranlassung zum schnellsten Lauf vorliegen, und die athemlose, tolle Fahrt durch die langgestreckten macadamisirten Gassen erweckte die Vorstellung, als handle es sich um Leben und Tod.

Endlich langten wir an. Ich hatte damals nur wenige japanische „Paläste“ gesehen und fühlte mich hinsichtlich der Vornehmheit meines Patienten stark enttäuscht. Der „Palast“ lag vor mir, eine mäßig lange Front eines hölzernen, stallähnlichen Gebäudes, schwarz mit Holzteer gestrichen, mehrfach durchbrochen von hölzernen Fenstergattern, hinter welchen die mit Papier beklebten Fensterrahmen sichtbar werden; an der mit der Straße durch eine Plankenüberlage verbundenen Stelle befand sich ein großes Hofthor mit mächtigen kupferbeschlagenen Flügeln. Sie öffnen sich; die Fahrstühle sausen in den Hof, so schnell, daß wir kaum den Thorhüter (Momban) mit seiner tiefen Verbeugung wahrnehmen können. An der kleinen Holztreppe, auf der mein Begleiter seine stelzenartigen Holzschuhe stehen läßt, in der Vorhalle, auf den Gängen, hinter jeder sich aufschiebenden Thür erwarten uns auf die Matten sich niederwerfende oder sich unendlich tief verbeugende, dabei die Luft mit einem unnachahmlichen Schlürfen der Ehrerbietung einziehende Männer und Jünglinge: die zahlreiche Dienerschaft eines distinguirten Hauses.

Endlich machen wir in einem Raume Halt, der trotz seines sonst echt japanischen Aussehens seine heutige besondere Bestimmung nicht verleugnen kann. Die feine Matte des Fußbodens ist mit einem Brüsseler Teppich belegt, und auf diesem befinden sich europäische Möbel: ein runder lackirter Tisch, vier bis fünf Stühle von einer sonderbar unsicheren, zu stetem Knacken Anlaß gebenden Construction, deren Rohrsitzen man sich nur ungern anvertraut. Es ist das für die heutige Consultation besonders hergerichtete Empfangszimmer. Einer der Stühle ist mit einer sehr bunten Reisedecke belegt; er stellt den Ehrenplatz dar, den nur der vornehmste

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 866. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_866.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)