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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

den ersten Stein auf Capitain wie Rheder werfen, die dem Drucke des riesig gesteigerten Verkehrs unterliegen? Wir dürfen es gewiß nicht, die wir über den „abscheulichen Zeitverlust“ lamentiren, wenn der Zuganschluß oder das Telegramm sich um eine Viertelstunde verspätet. Wie schwer aber ist die Grenze zu bestimmen, wo ein wirklicher Leichtsinn an Stelle der Bedrängniß durch die Anforderungen des Verkehrs tritt!

Eine Reihe weiterer Veranlassungen zu Collisionen ergeben sich, wenn wir an die einzelnen Factoren der Fahrt selbst herantreten: – die Führung, Schiffsapparate, gesetzliche Bestimmungen und schließlich die unter den Begriff der höheren Gewalt zusammenzufassenden Eingriffe des Wetters, der See etc.

Unter diesen Factoren nimmt nun die Führung bei weitem die wichtigste Stellung ein. Es ist eine sonderbare Thatsache, daß das Publicum Eisenbahnunfälle mit stoischer Ruhe als ein unvermeidliches Uebel aufnimmt, während es über eine Collision von Schiffen sofort ein Geschrei wegen Nachlässigkeit etc. erhebt. Und doch, wie unendlich viel einfacher liegen die Verhältnisse einer Eisenbahn gegenüber denen der Schifffahrt! Kurz gesagt: es handelt sich in erster Linie gar nicht um die Frage, ob die Collision bei geringerer Nachlässigkeit seitens des Capitains zu vermeiden war, sondern darum, ob der Capitain überhaupt im Stande war, bei strengster Pflichterfüllung eine solche zu vermeiden. Denn dieses Vermeiden einer Collision ist unter Umständen eine der schwierigsten Aufgaben, welche der menschlichen Leistungsfähigkeit gestellt werden kann.

Fassen wir einmal die hier eine überaus wichtige Rolle spielende Frage der Entfernungen in’s Auge. Jedermann weiß, wie schwierig schon auf festem Lande unter Benutzung aller möglichen durch das Terrain gebotenen Anhaltspunkte die genaue Bestimmung einer Entfernung bleibt. Wie viel mehr auf dem Meere und zwar einem Schiffe gegenüber, von dessen Curs und Fahrgeschwindigkeit der Capitain sich ein möglichst klares Bild machen muß, da ein voreiliges Manöver leicht ebenso verhängnißvoll werden kann, wie ein zu spätes. Handelt es sich um ein Segelschiff, so kommt noch als weiter zu berücksichtigendes, höchst wichtiges Moment die Windrichtung in Frage. Ein Dampfer ist natürlich ganz anders Herr seiner Bewegungen, als ein Segelschiff; der erstere kann stoppen, wann und wie er will, das letztere gar nicht, ohne die Herrschaft über das Schiff vollständig zu verlieren, und zwischen Segelschiffen ist wieder eines, welches am Winde segelt, einem anderen, das mit dem Winde segelt, gegenüber im Nachtheil. Ist nun auch auf solche Uebelstände selbstverständlich die gesetzliche Instruction basirt, so reicht diese doch keineswegs aus. Hier nur ein Beispiel. Wie bei uns die Wagen auf den Chausseen, so haben Schiffe, welche in entgegengesetzter Richtung sich auf einander los bewegen, rechts auszuweichen, das heißt Backbord zu legen. Kann es etwas Einfacheres als diese Bestimmung geben? Und trotzdem hat sie gerade den Grund für eine Menge Processe abgegeben. Eine bekannte sophistische Vexirfrage lautet: wann hört ein Pferdeschwanz auf ein Pferdeschwanz, ein Sandhaufen ein Sandhaufen zu sein, wenn man immer nur ein Haar und ein Körnchen nach dem andern davon wegnimmt? Ebenso fragen wir: wann hört die Richtung des Schiffes auf, eine entgegengesetzte zu sein? Der Gesetzgeber hat diese Unsicherheit der Bestimmung empfunden und die Worte beigefügt: „oder in beinahe gerade entgegengesetzter Richtung“. Das macht die Sache aber statt besser nur schlimmer, und die Verwirrung wird noch größer, wenn die Gerichte, wie dies geschehen, in solchen Fällen widersprechende Sentenzen abgeben. Dieses Beispiel mag beweisen, wie vorsichtig der Laie bei Beurtheilung solcher Verhältnisse sein muß; auf jeden Fall aber ersehen wir daraus, welche Summe von schnellen Beobachtungen und Schlüssen einem tatsächlichen Handeln des Commandirenden vorausgehen muß.

Bisher hatten wir nur die Begegnung mit einem einzelnen Schiffe im Auge. Der Leser kann sich aber vorstellen, wie sehr sich die Situation verwickelt, wenn statt eines ein halbes Dutzend Schiffe in Frage kommt, sodaß der Capitain also z. B. dem einen Backbord ausweichen, das andere Backbord ansegeln, vielleicht aber bei Vermeidung beider ein drittes in Steuerbord bedrohen würde. Und daß man ein halbes Dutzend und mehr Fahrzeuge zugleich in Rechnung zu ziehen hat, ist z. B. auf dem Canal gar nichts Ungewöhnliches. Aber trotzdem erscheint auch diese verwickelte Situation noch einfach, so lange es Tag ist. Tritt nun gar die Nacht ein, so ist der Capitain lediglich auf die Beobachtung der Laternen angewiesen. Jedes Schiff muß drei Lichter zeigen, ein rothes auf der Backbord-, ein grünes auf der Steuerbordseite und ein weißes am Vormast. Als Grundsatz der hier eintretenden Manöver gilt nun zwar, Farbe an Farbe zu bringen, dies wird aber um so schwieriger, je mehr verschiedene Farben im Curs eines Schiffes auftauchen, dabei ist eine Berechnung des Curses und der Schnelligkeit der Fahrt der den Curs kreuzenden Schiffe, die bei Tage doch annähernd erreicht werden kann, auf ein Minimum beschränkt, ja oft unmöglich und erst in einer Nähe ausführbar, die bereits die Gefahr der Collision in sich schließt.

Hierzu kommen erschwerende Umstände äußerlicher Natur. So wird z. B. jedermann, der von einem helleren und einem matter leuchtenden Lichte die Distanz bestimmen soll, doch unbedenklich das erstere als das nähere, das letztere als das entferntere auffassen. In Wirklichkeit kann die Sachlage aber umgekehrt sein, indem das entferntere von einer in Ordnung gehaltenen, das nähere von einer schmierigen oder schlechtes Oel brennenden Laterne ausgeht, welche verderblichen Folgen das in seiner Rückwirkung auf das vorzunehmende Manöver haben kann, wird sich jeder selbst sagen. Auch die Unzulänglichkeit der menschlichen Sinnesthätigkeit, sowie überhaupt der menschlichen Natur spielt eine bedeutsame Rolle. In erster Beziehung brauchen wir nur an die Resultate der bei den Eisenbahnen angestellten Untersuchungen über Farbenblindheit zu erinnern. Aber auch schon der im ersten Schreck irrig oder ungenau abgegebene Ruf des auf Auslug stehenden Mannes, der plötzlich Lichter vor dem Schiff erblickt, vermag ein falsches Commando und damit die Collision zu bewirken. Daß nun ein zur nächtlichen Dunkelheit hinzutretender dichter Nebel und andere Witterungsverhältnisse die Gefahr einer Collision um so näher rücken, ist selbstverständlich.

Der Leser wird nach alledem zugestehen, daß wir nicht zu viel sagten, wenn wir aussprachen, die Vermeidung von Collisionen sei im gegebenen Falle eine der schwierigsten Aufgaben, die man der Ueberlegung und Geistesgegenwart eines Menschen stellen könne. Eine Reihe von keineswegs allzu einfachen Beobachtungen sind zu machen, diese zu einem klaren Bilde zu verbinden, hierauf gilt es, klar und entschlossen zu handeln, und das Alles unter einem doppelten, schweren Drucke, demjenigen der verzweifelt drängenden Zeit, denn es kann sich um Minuten, ja Secunden handeln, und demjenigen von Gesetzesparagraphen, in deren Rahmen die beobachtete Situation erst einzupassen ist. Und es ist doch wahrhaftig ein ganz anderes Ding, einen Gesetzesparagraphen vor dem grünen Tische anzuziehen und durchzuführen, als dies zu thun mitten im bangen Moment der Gefahr für Leib und Leben, Hab und Gut, Ehre und Zukunft, womöglich noch mitten in dunkler Nacht, umbraust von Sturm und Wogendrang. Zu alledem kann es aber noch geschehen, daß der Capitain selbst bei getreulicher Pflichterfüllung mit dem Gesetz in Conflict kommt oder durch dieses selbst der Collision eigentlich mit offenen Augen in die Arme getrieben wird! Ein Beispiel mag das verdeutlichen.

Bei gewissen Stellungen der sich begegnenden Schiffe zu einander schreibt das Gesetz dem einen vor, in seinem Curs zu verharren, während das andere auszuweichen hat. Der Capitain des ersteren Schiffes hält also, der gesetzlichen Vorschrift entsprechend, Curs; drüben auf dem anderen Schiffe ist aber von dem Manöver, welches diesem gesetzlich zufällt, Nichts zu bemerken - es weicht nicht aus; immer näher rückt der Moment, wo die Gefahr der Collision in die Wirklichkeit tritt - das Schiff gegenüber weicht nicht aus, jetzt ist die Gefahr da, dringend da, und nun sucht der Capitain des Schiffes, welches bisher ruhig seinen Curs halten sollte, sich noch durch ein selbstständiges Manöver zu retten, zumal, wenn sein Schiff das schwächere, also beim Zusammenstoße gefährdetere ist. Da, in der letzten Minute, macht das Schiff gegenüber die vom Gesetze vorgeschriebene Bewegung, allein zu spät, die Collision ist da. Sie kommt später vor dem Seegericht zur Aburtheilung und - der unschuldige Capitain, der, welcher ursprüglich in Ausführung der gesetzlichen Bestimmung seinen Curs einhielt, wird verurtheilt, denn er hat diesen schließlich, gegen das Gesetz, geändert.

„Ja,“ sagt er, „ich mußte es thun, denn der Andere wich nicht aus, wie er sollte.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 861. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_861.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)