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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


„Wo ist nur Lieschen?“ fragte sie sich. „Ob er geschrieben hat, wann er kommt?“ Sie stand auf und trippelte aus der Stube, die Mondstrahlen huschten über das gute alte Gesicht und die schneeweiße Haube. „Lieschen!“ rief sie in das Wohnzimmer – keine Antwort, sie schritt zurück durch den dunklen Flur die Treppe hinauf. „Sie wird doch nicht weinen?“ dachte sie – sie schaute in das trauliche Mädchenstübchen – nirgend eine Spur von der Gesuchten. Kopfschüttelnd zog sie sich zurück und lenkte unwillkürlich ihre Schritte zu einer andern Thür, leise öffnete sie dieselbe, das Mondlicht füllte den kleinen Raum mit weißem flimmerndem Glanz, und in diesem silbernen Lichte, da stand unbeweglich die holde schlanke Mädchengestalt und schaute zum Fenster hinaus. Wie gebannt blieb die alte Frau stehen und sah zu dem lieblichen wohlbekannten Bilde hinüber, war es denn noch Jugendzeit? War das denn die Lisett wieder, die dort stand?

„Er kommt,“ jubelte da eine süße Stimme, „er kommt. Ich habe das Licht gesehen.“ Und leicht und zierlich war Lieschen an der alten Frau vorübergehuscht und dann wie ein holder Spuk verschwunden.

Richtig, da drüben schimmerte ein Licht im Thurmstübchen, die alte Frau stützte sich fest auf das Tischchen am Fenster und starrte hinüber, ihr Jugendtraum war wieder erwacht, „allgütiger Gott!“ sagte sie leise und die Hände verschlangen sich, „träume ich denn, träume ich?“

Und dann trieb es sie hinunter. Mit zögernden Schritten ging sie aus dem Hause; der Garten lag im weißen Mondlicht, und berauschender Blüthenduft hauchte sie an; wie einst in ferner, ferner Jugendzeit wandelte sie weiter, die Nachtigallen schlugen so heimlich, und von jenseits des Weges klang in zitternden Tönen das einförmige Concert der Frösche herüber. Jetzt trat sie auf den Kiesplatz vor der Laube – wirklich, es flüsterte da drinnen, leise schlich sie hinzu und bog die Zweige zurück, da saßen sie neben einander auf der Bank, sie hatte den Arm um seinen Nacken gelegt und ihr Gesicht an seiner Brust verborgen, und er küßte immer und immer wieder ihr braunes Haar und nannte sie mit den zärtlichsten Schmeichelnamen. Und jetzt hob sie ihr Gesicht, und in dem hellen Mondstrahl, der sie streifte, sah die alte Frau ein paar große blaue Augen, die mit dem Ausdruck reinsten Glückes an seinem Antlitz hingen, das sich ihnen entgegen bog.

Behutsam ließ sie die Zweige fallen und trat zurück – sie hatte genug gesehen. Leise, leise schritt sie wieder den Weg entlang, und dann und wann wischte sie die Augen mit dem Schürzenzipfel. Unter den Lindenbäumen vor der Hausthür lag tiefes Dunkel, sie setzte sich auf die Sandsteinbank und schaute zum Garten hinüber mit gefalteten Händen und die alten Lippen murmelten ein heißes Dankgebet; was sie kaum zu hoffen gewagt, es war Wahrheit geworden.

Von jenseits des Wassers erklang eine frische Mädchenstimme in all die Frühlingsmelodien hinein, ein helles Kleid schimmerte im Mondlicht, näher und näher kam der Gesang, und deutlich tönte jedes Wort in das Ohr der alten Frau:

Die Lieb’ kommt wie der Frühling leis,
Eh’ man gedacht der losen,
Und zaubert an ein welkes Reis
die allerrothsten Rosen.

Sie weckt die schönste Melodei
Im Herzen, das noch eben
An keine Ros’, an keinen Mai
geglaubt mehr hat im Leben.

„Lieschen! Army!“ rief sie dann laut in den stillen Garten hinüber, als sie unter den Lindenbäumen stand, „wo seid Ihr?“

Keine Antwort – nur die Nachtigallen sangen weiter. „Laß’ sie, Nelly,“ sagte eine alte Stimme neben ihr, und eine Hand zog sie nieder auf die Bank, „laß’ sie den Mai genießen! Es gab gar so viele Stürme, eh’ ihre Rosen erblühen konnten.“

Und das Mondlicht zitterte über den Wipfeln der Bäume, das Wasser rauschte, und „Gott erhalte ihnen die Rosen und den Mai!“ flüsterte noch einmal der Mund der alten Frau, „die Rosen und den Mai!“




Ueber Schiffscollisionen.

In längeren oder kürzeren Zeitabschnitten, aber immer und immer wieder kommt, wie noch jüngst, von der See her die unheilvolle Nachricht eines schweren Unglücks, das aus einer Schiffscollision hervorgegangen ist. Nun ist zwar anzunehmen, daß allwöchentlich solche Collisionen stattfinden, aber die Nachricht von ihnen dringt, wenn dabei keine größere Katastrophe eintritt, nicht über die Schranken des Seegerichts in weitere Kreise hinaus. Werden aber größere, vor allem Passagierschiffe von einem solchen Unglück ereilt und weitere Kreise dadurch in Mitleidenschaft gezogen, so bemächtigt sich die Aufregung hierüber auch des größeren Publicums und erfahrungsmäßig ist dieses jederzeit mit der Beurtheilung des Falles schnell fertig, indem es der Führung der Schiffe die Schuld in erster Linie beimißt, denn „hinten hat das Schiff ja ein Steuerruder, auf der Capitainsbrücke einen Capitain, ringsherum lauter unbegrenztes Wasser – warum sind sie also nicht ordentlich ausgewichen?“ So populär diese Auffassung ist, so ungerecht, aber auch so entschuldbar ist sie. Dem Binnenländer ist die See und alles, was damit zusammenhängt, eine fremde Welt, und es fehlen ihm alle Anhaltspunkte für ein irgend zutreffendes Urtheil.

Da nun die Collisionen von Schiffen nicht nur in der jüngsten Vergangenheit das Publicum in Aufregung erhalten haben, sondern auch unvermeidlich – der Leser wird das Warum? aus den nachfolgenden Zeilen ersehen – künftig noch manches Mal in Schrecken setzen werden, so wollen wir kurz und unter Vermeidung aller für das weitere Publicum weder verständlichen noch interessanten Detailausführungen die Gesichtspunkte zusammenstellen, unter denen eine Collision zu beurtheilen ist, Gesichtspunkte übrigens, deren Kenntniß die bisherige Beurtheilung des Publicums wesentlich wandeln müssen, da sie, so einfach an sich, doch in ihrer Verbindung dem Laien neu sind.

Fassen wir zunächst diejenigen in’s Auge, welche sich aus dem Weltschifffahrtsverkehr, seinem Apparat und seinem Wesen nach ergeben! Mit Errechnung der Küstenfahrt und aller Fahrzeuge geringsten Tonnengehaltes kann man die Weltflotte, das heißt Handels- und Kriegsmarine aller Nationen zusammen gerechnet – so weit eine Berechnung möglich ist – in runder Summe auf ungefähr 170,000 Fahrzeuge veranschlagen, eine Summe, die jährlich wächst und in ihrer imposanten Größe die Gefahr von Collisionen an sich wachrufen dürfte, stünde ihr nicht das unermeßliche Gebiet des Weltmeeres gegenüber. Die Zahl der verkehrenden Schiffe erhält erst eine verhängnißvolle Bedeutung da, wo an den Ufern stark gegliederter Continente hochentwickelte Culturvölker lebhafte Seefahrt treiben und in Folge dessen der Schiffsverkehr sich in einigen Gegenden wie in einem Brennpunkt vereinigt. Das hervorragendste Beispiel und zugleich das gefährlichste Fahrwasser bietet unser auch sonst durch seine Strömungen und Winde berüchtigter Canal. Wenn man bedenkt, daß z. B. allein die Elbmündung jährlich im Durchschnitt von 25,000 Fahrzeugen passirt wird, so kann man sich einen annähernden Begriff davon machen, welcher Schiffsverkehr auf der genannten Seestraße stattfindet. Zu den Gefahren eines gehäuften Verkehrs gesellt sich aber ein anderer bedenklicher Umstand: das beschleunigte Tempo unseres heutigen Güterumlaufes. Der Rheder verlangt von seinem Capitain um der Concurrenz willen eine möglichst schnelle Fahrt. Der gewissenhafte Capitain versucht nach Kräften, diesen Anspruch mit dem anderen an eine möglichst sichere Fahrt auszugleichen. Was geschieht? Bei der nächsten Fahrt überholt ihn ein anderer, weniger gewissenhafter College, und der Rheder bedauert achselzuckend, daß er bei weiteren solchen „langsamen“ Fahrten, auf die Verwendung des Capitains verzichten müsse. Dieser ist nun vor die Wahl gestellt: entweder mit Sicherheit seine Stelle zu verlieren und damit seine Existenz, die seiner Familie und überdies sein Renommée auf das Spiel zu setzen, oder zu riskiren, was Andere auch riskiren, und sich auf das gute Glück, daß Nichts passirt zu verlassen. Die menschliche Schwäche siegt, er wählt den letzteren Weg; das nächste Mal fährt er darauf los und – hat er gerade Unglück, so ist die Collision fertig. Wer wollte nun

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 860. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_860.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2016)