Seite:Die Gartenlaube (1878) 859.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

des vergehenden Wintertages. Ihre Züge veränderten sich nicht; nicht eine Spur von Mitleid mit dem geängstigten Kinde leuchtete aus den schwarzen Augen; nicht ein Wort kam über ihre Lippen; sie ließ sie die Angst auskosten bis auf den letzten Tropfen.

Da schallte ein eiliger, wohlbekannter Tritt durch die Halle, und dort unten in der Dämmerung des Ganges erschien eine schlanke Männergestalt. Das junge Mädchen sah ihr mit trockenen brennenden Augen entgegen – er kam noch? Sie sollte ihn noch hier finden? Mußte ihr denn diese Stunde noch schwerer gemacht werden? Als wollte sie Nichts mehr sehen, um stark zu bleiben, schlug sie die Hände vor das Gesicht.

„Was geht hier vor?“ tönte jetzt seine Stimme hastig und wie aufgeregt in ihr Ohr, „meine Braut weint?“

Seine Braut! Wie namenlos weh ihr dieses Wort that – wäre sie doch fort von hier, tausend Meilen weit, um dieser Qual zu entgehen!

„Sie ist vernünftiger als Du,“ erwiderte die alte Dame, „noch einmal stehst Du am Scheidewege, denn sie ist bereit zurückzutreten –“

„Weil Du es ihr plausibel gemacht hast?“ fragte er grollend zurück.

„Nein, Army,“ unterbrach ihn seine Mutter, „Lieschen hörte zufällig, daß Großmama –“

„Was hast Du gehört, Lieschen?“ fragte er, den Arm um sie legend und sich zu ihr niederbeugend; wie weich auf einmal seine Stimme klang!

Sie antwortete nicht, aber die Thränen rollten ihr jetzt aus den Augen und flossen ihr über die schlanken Finger herab, die noch immer das Gesicht bedeckten. Sie sah nicht, wie ängstlich er sie anschaute, sie fühlte nur wieder den heißen brennenden Schmerz, daß sie ihn doch noch lassen müsse, daß selbst ein Leben ohne Liebe an seiner Seite noch ein Paradies sei gegen die Leere, die ihr entgegen starrte, wenn sie ihm entsagte.

„Lieschen,“ bat er, „Du könntest wirklich so – so vernünftig sein, wie die Großmutter eben behauptete?“

Sie nickte.

„Ja, ja!“ schluchzte sie, alle Selbstbeherrschung zusammennehmend, „ich wußte ja nicht, daß der Herzog Dir helfen wollte, sonst – ach, sonst, wäre ich ja niemals hierher gekommen, um – ich glaubte – ich, ich allein könnte Dich retten.“

„Das kannst Du auch,“ sagte er leise, „Du allein kannst es, kein Mensch weiter auf der ganzen weiten Welt.“

Er nahm ihr die Hände vom Gesicht und schaute in ihre verweinten Augen.

„Lieschen, wenn Du wüßtest, wieviel ich um Dich gesorgt –“

Sie schüttelte den Kopf.

„Mir schwebten,“ fuhr er fort, „ja beständig ein paar traurige blaue Augen vor, und eine längst vergangene traurige Geschichte von zwei eben solchen blauen Augen, die vor Kummer und Herzeleid gestorben sind; es packte mich mit Entsetzen, dachte ich daran, und meine Angst, meine Ahnung war doch nicht grundlos, beinah wäre ich zu spät gekommen – nicht wahr?“

„Nein, nein, Army, es ist Mitleid von Dir, Du weißt nicht, was Du hinwirfst, ein glänzendes Leben, eine stolze Carrière – laß’ mich! Noch ist es nicht zu spät,“ flehte sie ängstlich.

„Du thörichtes Kind, ich weiß ganz genau, was ich aufgebe, ich weiß aber auch, was ich dafür gewinne – das Beste, das Edelste, das Reinste, was die Welt hat.“

Es war still geworden in dem alten gewölbten Treppenhause, still und dunkel, unten fuhr eben polternd ein Wagen über das Steinpflaster. – Der letzte Tag des Jahres ging zu Ende, was wird das neue bringen?



20.

Die Erde stand im vollsten Frühlingsglanz. Das erste junge Grün schmückte Bäume und Sträucher; in Erving’s Garten blühten Narcissen und Flieder, der Goldregen bog sich über den Zaun, und der Rothdorn hing seine rosa geschmückten Zweige schwer hernieder unter all der Blüthenpracht; im Parke aber wiegte der laue Wind die jungen Blätter der Lindenbäume und küßte jedes Gräschen auf den weiten smaragdgrünen Rasenflächen, als wolle er ihnen erzählen von neuer Lust und neuem Leben. Und neue Lust und neues Leben verkündete auch der Wasserstrahl, der aus dem alten Sandsteinbecken krystallhell emporstieg, um rauschend und sprühend wieder herabzufallen. Wie einst vor langer Zeit, stand das Portal weit geöffnet, seine massiven gewaltigen Flügelthüren weit aufgethan, als wisse es, daß bald, in wenig Wochen, der glückliche Schloßherr sein junges schönes Weib über die alte Schwelle des väterlichen Hauses führen werde; von den Stufen der Treppe war der grüne Moosteppich verschwunden, und die beiden alten Bären schauten wunderlich trotzig unter ein paar mächtigen grünen Eichenkränzen hervor, die eine neckische Hand ihnen aus die ehrwürdigen Häupter gesetzt hatte.

Die langen Fensterreihen des Schlosses waren geöffnet, nur einige verhüllten dichte Vorhänge, diese Zimmer bedurften nicht der Frühlingssonne, denn ihre Bewohnerin fehlte; sie war fort, wirklich fort. Keine Wimper hatte gezuckt in dem stolzen Gesichte, als sie an jenem Sylvesterabend den elenden Wagen bestieg, der sie wegführte aus dem Orte, der Jahre lang ihre Heimath gewesen. Kalt und flüchtig hatten ihre Lippen auf der Stirn der Schwiegertochter und Enkelin geruht, wußte sie doch, daß dort oben im dämmerigen Corridor ihr Enkelsohn sich noch im letzten Augenblicke ein Glück gerettet, gegen dessen Schein alles Andere verblich und der ihre Augen blendete – und so schloß sie denn diese einst vielbewunderten Sterne, als sie an dem alten Portale vorüberfuhr, und ballte die feinen Hände, während sich Sanna aufschluchzend auf dem Wagen bog – vorbei, vorbei! Was wird ihr das kommende Jahr bringen?

Und nun wurde der junge Herr jeden Tag zurückerwartet. Er war bis zur Uebernahme des Gutes auf der Besitzung eines Freundes gewesen, um ohne Zeitverlust sich mit seinem Berufe vertraut zu machen. Da oben in dem kleinen verschlossenen Thurmzimmerchen stand Nelly mit dem alten Heinrich, die beiden runden Fenster waren ebenfalls weit geöffnet, und sie schaute mit glücklichem Lächeln hinaus über den Park, und ihre Blicke blieben an den im Sonnenlichte flimmernden Fenstern der Papiermühle haften, die wie in Blüthenpracht vergraben dalag.

„Schau, Heinrich!“ rief sie, „nun weiß ich auch, warum mein Bruder schrieb, wir sollten ihm gerade dieses Zimmerchen in Stand setzen.“

„O ja, hier ist eine gar schöne Aussicht,“ sagte der alte Mann mit einem verständnißvollen Lächeln in dem gefurchten Gesichte, „der Herr Baron wird gar nicht wieder hinaus wollen, wenn er erst einmal drinnen wohnt.“

„Es ist ja aber auch zu wunderhübsch hier!“ rief Nelly, sich in dem kleinen runden Gemache umschauend, „wie gemüthlich! Und die Aussicht!“

Heinrich schob ein paar altmodische Stühle, die um einen kleinen ovalen Sophatisch standen, zum hundertsten Male zurecht; „und nun noch die Eichenguirlanden um die Thür draußen, gnädiges Fräulein! Dann kann er kommen; dann ist Alles fertig, um und um. Ich hätte doch nicht gedacht, daß ich das noch erleben sollte,“ schloß er und schüttelte freudig den grauen Kopf, „es ist wunderbar auf der Welt, gnädiges Fräulein, ja wunderbar.“ – –

Auf der Mühle ging scheinbar Alles im alten Gleise weiter, nur die Hausfrau fehlte schon seit vielen Wochen, sie war mit der kranken Bertha des Oberinspectors nach Italien gereist, aber bald würde sie zurückkehren, hieß es, gesund und gekräftigt.

Die Muhme aber sorgte sich um ihren Liebling, sie sei auch eine gar zu stille Braut, meinte sie. Halbe Tage lang konnte das Mädchen sinnend und träumend vor sich hinschauen, am liebsten saß sie allein in ihrem Stübchen oben und ließ die Muhme sich plagen mit den gewichtigen Leinwandballen, die sie zum Zuschneiden und Nähen aus den alten Truhen hervorholte. „Es ist ihr Alles gleichgültig,“ murmelte sie betrübt vor sich hin, wenn ihre Augen über diesen wichtigen Schatz jeder Haushaltung glitten, „sie hat kein Interesse für ihre Aussteuer; das arme Kind, sie entbehrt so viel, sie weiß ja nicht, wie es ist, wenn Einen der Schatz so recht von Herzen lieb hat.“ Allabendlich aber, seit jenem Sylvester, falteten sich die alten Hände zum Dankgebet, daß die Baronin fort sei.

Und wieder senkte sich so ein Maiabend zur Erde, duftig und mondbeschienen, und wieder saß die alte Frau am Fenster ihrer kleinen Stube, die Hände gefaltet, und sann. Draußen rauschte wieder das Wasser in alter Melodie, die Schwärzwälder sagte dazwischen ihr einförmiges Ticktack und vom Hofe schallte der Gesang der Mädchen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 859. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_859.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2016)