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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

„O der Fluch, der Fluch! O mio dio!“ schluchzte das alte Mädchen, das noch immer, die Hände ringend, am Boden kniete.

„Thörin!“ hörte er noch seine Großmutter sagen; dann fiel die Thür zwischen ihm und ihr in’s Schloß.



19.

Der letzte Tag im alten Jahre! hat er nicht etwas feierlich Wehmüthiges? Es ist Abschiedsstimmung, die das Menschenherz erfüllt, und ein banges Zurückdenken und Fragen, was gab uns das alte Jahr, wie viel nahm es uns, und was wird das neue bringen? Freude oder Schmerz, Glück oder herben Verlust?

Es giebt eine Zeit, in der man solche Fragen noch nicht stellt, eine Zeit, in der man glaubt, die Zukunft müsse schöner werden mit jedem Tage, wo der Garten unserer Träume stolze Blüthen in Menge trägt und wo man in seliger Ungeduld auf das Brechen der Knospenfülle wartet, um sich an einer märchenhaften Blüthenpracht zu berauschen; aber die Zeit vergeht, und Knospe um Knospe fällt welk zur Erde, nur wenige erblühen vereinzelt und zittern, daß auch sie der rauhe Hauch zerstöre, der ihre Schwestern traf. Und wer erst solche Blüthen fallen sah, der steht mit traurig fragendem Herzen an der Pforte eines neuen Jahres und faltet bang die Hände und fragt unwillkürlich, was wird die Zukunft mir bringen? Werden die Knospen unsrer Hoffnungen welken oder erblühen? Es ist traurig, wenn junge Herzen schon diese Frage thun müssen, wenn ein Reif im Frühling all’ diese sonnige, glückverheißende Blüthenpracht zerstört.

Es war Nachmittags gegen vier Uhr, als Lieschen die Unruhe nach dem Schlosse trieb; seit vier Tagen war Army mit dem Vater schon fort, und sie hatte noch keine Nachricht von ihm erhalten. Und heute war Sylvester, ein Tag, der sonst liebe Gäste in’s Haus geführt – aber heute? Der Vater nicht zu Hause, die Mutter so still, die Muhme traurig und Onkel Pastor und die Tante in tiefem Leid um ihren Liebling. Und sie?

Da schritt sie wieder die Allee zum Schlosse hinauf, sie mußte fragen, ob seine Mutter oder Nelly vielleicht Nachricht von ihm hatten? Der Brief des Vaters war so kurz gewesen; es habe sich Alles viel verwickelter herausstellt, als er geglaubt, schrieb er, und wann er zurückkäme, sei noch unbestimmt – kein Wort für sie über Army!

Sie mußte heute etwas von ihm hören. – Sie schaute während des Gehens durch das kahle Geäst der Bäume und die Allee hinaus zu dem Portal, das eben auftauchte. Am Himmel hingen schwere, graue Wolken, und eine unangenehm warme Luft zog ihr entgegen; bei der falben Beleuchtung sah das alte Schloß fast unheimlich düster aus, so leer, so verlassen, ein rechtes Unglücksnest, wie die Muhme sagte. Wie viel Jahre sind gekommen und gegangen über diese alten Dächer, und wie viele werden noch kommen und gehen, und was werden sie bringen? Es kehrt nimmer wieder, was man einmal verloren, und sie, sie hatte so unendlich viel verloren, den ganzen wundervollen Liebesfrühling! Von all’ den schimmernden Blüthen waren nur die Dornen geblieben, die sich in ihr wundes Herz gedrückt, kein süßes Glück an der Seite des geliebten Mannes, nur ein Leben in starkem Selbstvergessen, nur schmerzliches Lächeln, aber keine Liebe für sie. Und deshalb auch kein Brief.

Was sollte er ihr auch schreiben? Sie erinnerte sich, ihre Mutter einst gesehen zu haben, wie sie mit glücklichem Lächeln ein Päckchen alter Briefe öffnete, die in einem Kästchen sorgsam verwahrt lagen. „Die Briefe Deines Vaters,“ hatte sie gesagt, als das junge Mädchen sie fragte, „aus der Zeit, da wir noch Braut und Bräutigam waren.“ Welche Seligkeit dabei aus den Augen der Mutter leuchtete! Lieschen preßte die Hände auf die Brust und schritt rasch weiter.

Jetzt trat sie aus der Allee und lenkte ihre Schritte über den freien Platz, da hielt ein Wagen vor der Seitenpforte. Ein Wagen, wie kam ein Wagen hierher? Sollte Army –? Aber nein, dann wäre ja auch der Vater gekommen.

Sie schüttelte den Kopf, als sie um das Gefährt herum ging; es war ein jammervoller alter Kasten, jedenfalls ein Fuhrwerk aus dem Dorfe.

Sie ging in’s Schloß und blieb im Corridor plötzlich stehen; es schien ihr, als höre sie Stimmen und Tritte. In dem langen gewölbten Gange dunkelte es bereits, nur auf die breite Treppe, die nach oben führte, fiel ein mattes Licht durch die Fenster des Treppenhauses, das mit der großen Halle in Verbindung stand; wieder schritt sie zögernd weiter.

„Ihr habt es ja nicht anders gewollt,“ hörte sie die etwas schroffe Stimme der alten Baronin sagen, „Thränen finde ich jetzt bei Gott gänzlich überflüssig, Cornelie.“

Lieschen vernahm gleichzeitig ein Rauschen von Kleidern und leichte Tritte; auf der obersten Stufe erschien eben die alte Baronin, sich halb zurückwendend zu ihrer Schwiegertochter und Nelly. Sie war in einen ehemals gewiß kostbaren Sammetpelz gehüllt, und das stolze Gesicht schaute unbewegt wie gewöhnlich aus einem schwarzen Spitzenshawl, den sie sich um den Kopf gewunden hatte.

„Es ist die Sorge um Sie, Mamachen,“ sagte die jüngere Baronin, „bei diesem Wetter! Und Sie sind so von den Unbequemlichkeiten des Reisens entwöhnt.“

Reisen? Sie wollte reisen? Einen Moment zog ein helles Gefühl der Freude in Lieschen’s Herz.

„Die nothwendigen Consequenzen Eurer Handlungsweise, Cornelie,“ ertönte es wieder, „indeß sorge Dich nicht! Noch bin ich nicht so gebrechlich, daß ich – –“

„Es ist zu schnell gekommen, Mama, zu schnell.“

„Zu schnell? Ich habe mit Ungeduld die Augenblicke gezählt; ich wäre am liebsten noch in derselben Stunde abgereist.“

„Es wird mir namenlos schwer, Sie ohne eine Verständigung scheiden zu sehen.“

„Ich meine, die Verständigung habe ich am meisten gesucht, man wollte mich aber nicht verstehen. Denkst Du, mir wird es leicht zu gehen? Ich fühle das Traurige in diesem Moment mit aller Gewalt, so jammervolle Zeiten ich auch hier verlebt habe. Aber bleiben unter den Bedingungen, die mir der zukünftige Herr auf Derenberg stellte, bleiben, um ein Leben zu führen, wie er es mir bot, um den Preis, meine Grundsätze seinen neuen durchaus nicht aristokratischen Gesinnungen zum Opfer zu bringen – nimmermehr! Ich bin noch aus der alten Schule: Noblesse oblige!

„Sie geht meinetwegen,“ flüsterte Lieschen.

„Ich glaube, Army reiste ab, in der sicheren Hoffnung, Sie noch wieder zu finden, Mama,“ bat die Schwiegertochter.

Die alte Dame lachte plötzlich laut auf. „Dio mio!“ rief sie. „Er weiß sehr wohl, daß er mich nicht mehr hier findet, und es ist gut so; ich will ihn nicht wieder sehen. Er weist ein Anerbieten zurück, das ihm eine glänzende Carrière öffnet – –“

„Ich weiß,“ unterbrach die Schwiegertochter, „der Herzog –“

„Kein Wort mehr!“ fiel die alte Baronin ein; sie schritt vollends die Stufen hinunter.

„Bleiben Sie ruhig, Frau Baronin!“ sagte da eine bebende Stimme, und Lieschen beugte sich aus der Dämmerung zu ihr hinüber. „Bleiben Sie, es ist noch nicht zu spät; wenn es so steht, so – so gebe ich Army die Freiheit zurück; ich wußte ja nicht, daß sich noch ein Weg zu seiner Rettung aufgethan – –“ Sie verstummte und griff mechanisch nach dem geschweiften Geländer der Treppe. Die dunkle Gestalt der alten Dame vor ihr wich erschrocken zurück; Nelly aber war mit einem Sprunge neben der Braut ihres Bruders und ergriff ihre Hand.

„Was sprichst Du da, Lieschen?“ fragte sie, „was willst Du thun?“

„Das hätten Sie sich früher überlegen sollen, mein Kind,“ sagte die alte Dame scharf, „jetzt dürfte Ihre bessere Einsicht zu spät kommen.“

„Ich habe ihm helfen, ihn retten wollen,“ erwiderte Lieschen tonlos, „aber niemals wollte ich seinem Glücke im Wege stehen. – O, es ist gewiß noch nicht zu spät, Frau Baronin!“ rief sie flehend, als die alte Dame mit dem unnachahmlich stolzen Zurückwerfen des Kopfes an ihr vorüber schritt. „Bleiben Sie, bis er kommt, gnädige Frau, sagen Sie ihm, er habe keinerlei Verpflichtungen gegen mich! Ich selbst gebe ihn frei, damit er anderswo das Glück finde, das ich ihm ja doch nicht geben kann. Er liebt mich ja nicht. – O, bleiben Sie, bleiben Sie!“

Die alte Dame schüttelte die kleinen bebenden Hände nicht ab, welche den Sammet ihres Mantels erfaßt hatten; sie stand wie angezaubert und sah in das schöne Gesicht, das so verstört zu ihr aufblickte in der dämmerigen, unheimlichen Beleuchtung

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